Die Föderation der Rechtshilfe- und Solidaritätsvereine für Familien von Gefangenen (MED TUHAD-FED) und die Juristenvereinigung ÖHD haben in einem gemeinsamen Bericht schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen in türkischen Gefängnissen im Jahr 2024 dokumentiert. Grundlage des Berichts sind Interviews mit Gefangenen in mehr als neunzig Haftanstalten.
Rechtswidrige, unmenschliche und willkürliche Praktiken
Der Bericht führt eine Reihe von dramatischen Beispielen für die Lebensbedingungen sowie rechtswidrigen, unmenschlichen und willkürlichen Praktiken auf, denen Häftlinge hinter türkischen Gefängnismauern ausgesetzt seien. Dazu zählten körperliche Misshandlungen durch das Vollzugspersonal, Leibesvisitationen und ein Verbot der kurdischen Sprache. Hinzu kämen schlechte hygienischen Bedingungen: Gefangene erhielten nur selten Reinigungsmittel und müssten sie zu überteuerten Preisen aus den Gefängniskantinen kaufen, während Leitungswasser häufig verschmutzt und nicht trinkbar sei.
Erschwerend hinzu kämen massive Einschränkungen beim Recht auf Information. Laut dem Report werde Gefangenen der Zugang zu Zeitschriften und Zeitungen willkürlich verweigert. Besonders der Bezug von der pro-kurdischen Zeitung „Yeni Yaşam“ sei praktisch nicht möglich, des Weiteren sei die maximale Anzahl an Büchern reduziert worden. Damit würden das Recht auf Informationsbeschaffung und der Zugang zu Medien sowie der Kontakt zur Außenwelt stark eingeschränkt. Darüber hinaus seien kulturelle, sportliche und künstlerische Aktivitäten, die während COVID-19-Pandemie ausgesetzt worden waren, nicht wieder aufgenommen worden.
Ein weiterer Schwerpunkt des Berichts ist die Behinderung des Zugangs zu medizinischer Behandlung. Bei Verlegungen von Haftanstalten in Krankenhäuser komme es zu sogenannten Mundhöhlendurchsuchungen sowie Handfesselung auf dem Rücken. Wer diese Maßnahmen verweigere, werde gar nicht erst ins Krankenhaus gebracht, was die Behandlung schwerkranker Gefangener gefährde. Häufig fänden Transfers in Kliniken außerhalb der Haftanstalten ohne vorherige Benachrichtigung statt und führten unterwegs zu Nacktdurchsuchungen. Kranke Gefangene würden nicht entlassen, was laut Bericht eine Verletzung ihres Rechts auf Gesundheit und Leben darstellt.
Zensur der kurdischen Sprache
Ebenfalls hervorzuheben ist die laut Bericht „umfassende Zensur der kurdischen Sprache“ in den Gefängnissen. Als Beispiele werden unter anderem die Einziehung kurdischer Bücher und auf Kurdisch verfasster Briefe sowie Disziplinarstrafen für das Singen kurdischer Lieder genannt, zudem seien sich in ihrer Muttersprache grüßende Gefangene verbalen und körperlichen Angriffen ausgesetzt. Dabei gilt, dass das Recht auf Muttersprache fundamentales Menschenrecht ist und als solches in allen relevanten internationalen Übereinkommen verankert wurde.
Verweigerte Entlassung wegen schlechter Sozialprognose
Die Autor:innen des Berichts kritisieren zudem verweigerte Entlassungen wegen einer vermeintlich schlechten Sozialprognose der Gefangenen oder fehlender Reue. In der Türkei entscheiden Beobachtungsausschüsse der jeweiligen Vollzugsanstalten über Haftentlassungen. Diese Ausschüsse setzen sich aus Angestellten zusammen, die über keine juristische Kompetenz verfügen und trotzdem über freiheitsentziehende Maßnahmen entscheiden können. Die gängigen Fragen, die sie für ihre Prognosen an die Gefangenen richten, lauten „Ist die PKK Ihrer Meinung nach eine Terrororganisation?“ und „Was halten Sie von Abdullah Öcalan?“. Gefallen die Antworten nicht, werden Haftentlassungen beliebig verschoben.
Forderungen und Empfehlungen
MED TUHAD-FED und der ÖHD fordern in ihrem Bericht sowohl nationale als auch internationale Institutionen, darunter das Gesundheits- und das Justizministerium sowie das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter (CPT), zum dringenden Handeln auf. Unmenschliche Praktiken wie Nacktdurchsuchungen, Isolation und Handfesselungen müssten eingestellt, bestimmte Gefängnistypen geschlossen und unabhängige Kontrollmechanismen eingerichtet werden, um die Missstände effektiv zu bekämpfen und die Rechte der Gefangenen zu gewährleisten. Außerdem nennen die Organisationen eine Reihe von Maßnahmen, die zur Beendigung der genannten Missstände notwendig seien:
1. Beendigung rechtswidriger Handlungen
Alle Praktiken und Handlungen, die gegen das Verbot von Folter und Misshandlung, den Zugang zu medizinischer Behandlung, die persönliche Freiheit und Sicherheit sowie die Kommunikations- und Meinungsfreiheit und das Recht auf Privatleben verstoßen, müssen sofort eingestellt werden. Die zuständigen Behörden sollen ihren positiven Verpflichtungen nachkommen.
2. Abschaffung bestimmter Gefängnistypen
Y- und S-Typ-Gefängnisse müssen geschlossen, andere Haftanstalten an die Prinzipien von Menschenwürde und Menschenrechten angepasst werden.
3. Sofortiger Verzicht auf entwürdigende Maßnahmen
Nacktdurchsuchungen, Mundhöhlendurchsuchungen, militärische Zählappelle im Stehen und Isolationshaft müssen beendet werden. Auch Handfesselungen während ärztlicher Untersuchungen oder während der Fahrt im Transporter sind abzuschaffen.
4. Rechtliche Reformen zur Vermeidung neuer Verstöße
Unter Berücksichtigung von Urteilen des Verfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sollen dauerhafte Regelungen geschafft werden, um bei Verlegungen, Disziplinarstrafen und dem Recht auf Kommunikation künftige Rechtsverletzungen zu verhindern.
5. Aufhebung von Verwaltungsvorschriften zum Nachteil von Gefangenen
Die Regelungen der Ausschüsse und die “Verordnung zur Beurteilung von Verurteilten” sollten abgeschafft werden, damit bedingte Entlassungen nicht weiter verhindert werden.
6. Gerechte Prüfung der „guten Führung“
Bevor Kriterien für eine etwaige „gute Führung” festgelegt werden, müssen die Haftbedingungen fair beurteilt und die Einrichtungen menschenwürdig gestaltet sein.
7. Abkehr vom „Feindstrafrecht“
Wer nach diskriminierenden Gesetzen wie dem „Anti-Terror-Gesetz“ inhaftiert wurde, ist nicht als „zu resozialisierender Krimineller“ zu betrachten. Strafvollzugs- und Strafgesetze sowie die Rechtsprechung müssen sich vom Ansatz eines Feindstrafrechts entfernen.
8. Unabhängige Kontrollmechanismen
Besonders die Situation schwerkranker Gefangener und andere gravierende Menschenrechtsverletzungen, Folter und Unterdrückungsmaßnahmen müssen durch nationale und internationale, unabhängige Aufsichtsinstanzen überwacht werden.
9. Aktives Eingreifen der zuständigen Stellen
Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter (CPT), das Gesundheits- und das Justizministerium, die Institution für Menschenrechte und Gleichstellung der Türkei (TİHEK) sowie die Menschenrechtskommission des türkischen Parlaments dürfen die Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen nicht ignorieren, sondern müssen dringend Maßnahmen ergreifen.