Beim türkischen Verfassungsgerichtshof ist Beschwerde gegen die andauernde Inhaftierung von Mehmet Emin Özkan eingelegt worden. Das neu aufgerollte Verfahren gegen den 83-jährigen Kurden verletze seine Menschenwürde, weil er aufgrund seiner weit fortgeschrittenen Erkrankungen den Abschluss des Prozesses „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr erleben wird“, sagt sein Verteidiger Serdar Çelebi. „Er hat ein Recht auf Abschiednahme und einen würdevollen Tod im Kreis seiner Familie. Der Umgang der Justiz mit ihm kann weder rechtlich noch humanistisch akzeptiert werden“, so Çelebi.
Mehmet Emin Özkan sitzt seit 1996 unschuldig im Gefängnis. Der Kurde aus Amed (tr. Diyarbakir) wurde 1996 als vermeintliches PKK-Mitglied wegen Mordes an einem türkischen General zu einer erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Obwohl spätestens seit 2014 auch die türkischen Strafverfolgungsbehörden von seiner Unschuld überzeugt sind und sogar Staatsanwälte seine Entlassung forderten, muss Özkan im Gefängnis bleiben. Die Justiz begründet die Fortdauer der Haft Özkans mit dem Licê-Prozess, der noch beim Kassationshof anhängig ist.
Bei IHD als „schwerkrank“ gelistet
Mehmet Emin Özkan ist etliche Male aus dem Gefängnis in Amed in eine Klinik eingeliefert worden. Bilder, die ihn an ein Krankenhausbett gefesselt und in Handschellen zum Gefängnistransporter abführend zeigten, sorgten für Wut und Empörung innerhalb der kurdischen Gesellschaft. Özkan wird vom Menschenrechtsverein IHD in der Liste der „schwerkranken Gefangenen“ geführt. Er leidet unter diversen Krankheiten, darunter fallen unter anderem ein Aneurysma im Gehirn, Bluthochdruck, eine Schilddrüsenerkrankung, eine Alzheimer-Demenz, die zu Gedächtnisverlust, Verwirrtheit und Desorientierung führt, Gehörverlust, Atemschwäche und eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung. Sechs Herzattacken hat Özkan bislang überlebt, vier Mal musste er eine Herzkatheteruntersuchung über sich ergehen lassen. Das Istanbuler Institut für Rechtsmedizin hat bei ihm eine Behinderung von 87 Prozent festgestellt – aber gleichzeitig seine Haftfähigkeit bescheinigt. Damit wurde auch die Ablehnung mehrerer Haftentlassungsanträge begründet. Özkan ist vollständig auf die Hilfe seiner Mitgefangenen angewiesen.
Warum wurde Özkan verurteilt?
Am 22. Oktober 1993 wurde in Licê, einem Landkreis der Provinz Amed, der Brigadegeneral Bahtiyar Aydın erschossen. Obwohl die PKK die Beteiligung an seiner Ermordung mit der Begründung ablehnte, keine Vergeltungsschläge provozieren zu wollen, die zu zivilen Opfern führen könnten, beschuldigte die Regierung die kurdische Guerilla, für den Tod von Aydın verantwortlich zu sein.
Einen Tag nach dem Mord an Bahtiyar Aydın verübte das türkische Militär einen Racheakt an der Bevölkerung von Licê. Sechzehn Menschen fielen einem Massaker zum Opfer, weitere 36 Personen wurden teils schwer verletzt. Insgesamt 402 Häuser und 285 Arbeitsstätten setzte das Militär in Brand, die Zahl der Vertriebenen ist noch immer unklar.
Später kam heraus, dass Aydın von seinen eigenen Leuten erschossen worden war. Mehmet Emin Özkan, der 1996 wegen einer Bagatelle festgenommen worden war, wurde im September desselben Jahres wegen Mordes an dem Brigadegeneral zu einer erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Anklage gegen ihn beruhte im Wesentlichen auf den Aussagen eines Kronzeugen. Seit Januar 2015 läuft vor dem 7. Schwurgerichtshof Adana das Wiederaufnahmeverfahren gegen Mehmet Emin Özkan.