Ein türkisches Strafgericht in der nordkurdischen Provinz Wan (tr. Van) hat zwei Frauen und sieben Männer wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu Haftstrafen zwischen sechs Jahren und drei Monaten und siebeneinhalb Jahren verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Angeklagten aus einer „terroristischen Gesinnung“ heraus vor mehr als zehn Jahren den Rückzug der PKK-Guerilla aus der Türkei in den Irak begleiteten. Darauf lasse unter anderem ein Foto schließen, dass bei einer Begegnung mit Guerillakämpfern zustande kam.
Angeklagt in dem erst 2022 eröffneten Verfahren waren Behice Abi und Evin Keskin sowie Abdulkerim Durmaz, Harun Okay, Atilla Kumli, Ömer Işık, Salih İpek, Yakup Aslan und Yılmaz Berki. Sie waren Teil einer von der Graswurzelbewegung „Demokratischer Gesellschaftskongress“ (KCD) gebildeten Kommission, die 2013 während des Dialogprozesses zwischen dem PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan und der türkischen Regierung zur Kontrolle des Rückzugs der Guerilla aus dem Norden Kurdistans in den Süden ins Leben gerufen worden war. Der in Gruppen arbeitenden Kommission gehörten auch zivilgesellschaftliche Organisationen und Initiativen wie Ärzte- und Anwaltskammern, der Menschenrechtsverein IHD, Gefangenensolidaritätsvereine, Gewerkschaften und die Friedensmütter an.
Im Zuge des Dialogprozesses zwischen Öcalan und der politischen Führung in Ankara hatte der seit 1999 in der Türkei inhaftierte PKK-Vordenker im März 2013 einen historischen Waffenstillstand verkündet, der den Weg freimachen sollte zu einer demokratischen Lösung der kurdischen Frage. Für die erste Phase dieses Prozesses war der Abzug aller Kämpferinnen und Kämpfer aus dem türkischen Staatsgebiet in die Medya-Verteidigungsgebiete und die Freilassung aller Kriegsgefangenen vorgesehen. Im Gegenzug forderte die kurdische Seite unter anderem die Einstellung von Militäroperationen und das Ende des Staudammbaus, der Umwelt und Lebensraum zerstört und während der Anwesenheit der Guerilla und im Rahmen der bewaffneten Auseinandersetzungen nicht möglich war, die Freilassung der KCK-Gefangenen und erste Schritte hin zu einer neuen Verfassung.
Der Rückzug der Guerilla begann im Mai 2013, doch im September wurde die Initiative wieder abgebrochen. Die PKK gab als Grund an, dass der türkische Staat die Chance auf eine friedliche Lösung nicht nutze und stattdessen auf Krieg beharre. Interesse, eine neue Seite in der Beziehung zwischen dem kurdischen und türkischen Volk aufzuschlagen, Frieden zu stiften, den demokratischen Raum für die politische Teilhabe der Kurdinnen und Kurden zu eröffnen, bestehe mit Blick auf eine Verschärfung der Militarisierung Kurdistans, immer weitere Militäroperationen, der Ausweitung des Staudammbaus und anderer Affronts nicht. Um einen langfristigen Frieden und die damit zusammenhängende Demokratisierung der Türkei zu ermöglichen, müsse ein ernsthafter und ehrlicher Dialog der beteiligten Akteure auf gleicher Augenhöhe ermöglicht und entwickelt werden, hieß es.
Dazu kam es wie erwartet nicht. Im Sommer 2015 begann das Regime in Ankara damit, den 2014 noch während des Dialogprozesses mit Abdullah Öcalan hervorgebrachten „Zersetzungsplan“ („Çöktürme Planı“, sinngemäß: „In die Knie zwingen“) umzusetzen. Dabei handelt es sich um ein militärisches und politisches Vernichtungskonzept gegen die kurdische Gesellschaft, das bis heute Bestand hat. Dazu gehört auch die juristische Verfolgung von Akteurinnen und Akteuren, die den Guerillarückzug 2013 begleiteten. Im konkreten Fall waren die Kommissionsmitglieder eher zufällig in einem Dorf in Wan einer Gruppe PKK-Kämpfer begegnet. Nach Angaben ihrer Rechtsvertretung führten sie ein eher kurzes Gespräch über den Rückzug und hielten die Zusammenkunft auf einem Foto fest. Allein deshalb seien sie im Juni 2022, also neun Jahre nach der Begegnung mit der Guerilla, festgenommen und in Untersuchungshaft gesteckt worden. Die anklagende Staatsanwaltschaft habe sich bei ihrem Vorgehen am Prinzip des „Feindstrafrechts“ orientiert.
Die nun Verurteilten kamen nach drei Monaten in Untersuchungshaft zwar wieder frei, mussten sich aber regelmäßig bei der Polizei melden und durften das Land nicht verlassen. Bei dem nun vorerst beendeten Prozess in Wan waren sie nicht anwesend und ließen sich von ihrer Verteidigung entschuldigen. Diese hat angekündigt, in Berufung zu gehen, sobald die Begründung des Gerichts vorliegt. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig.