EU-Mitgliedsstaaten müssen laut einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) bei der Familienzusammenführung die besonderen Umstände von Flüchtlingen berücksichtigen. Sie dürften das persönliche Erscheinen für die Antragstellung nicht verlangen, wenn die Anreise etwa aus Kriegs- und Katastrophengebieten übermäßig schwierig sei, entschied das Luxemburger Gericht am Dienstag im Fall einer in Rojava lebenden Mutter zweier minderjähriger Kinder (Az. Case C-1/23 PPU/Afrin). Belgische Behörden hatten von ihr verlangt, zu einer belgischen Auslandsvertretung zu reisen, etwa nach Ankara oder Istanbul in der Türkei oder in den Libanon oder nach Jordanien, statt den Antrag auf Familienzusammenführung per E-Mail zu stellen.
2019 kam der Ehemann der Frau nach Belgien, 2022 erkannte ihn die Verwaltung als Flüchtling an. Daraufhin reichte ihr Anwalt einen Antrag auf Familienzusammenführung ein. Das belgische Recht sieht vor, dass die „nachzugswilligen“ Angehörigen für die Antragstellung zu einer belgischen diplomatischen Vertretung reisen müssen. Da Mutter und Kinder in Efrîn im Nordwesten Syriens leben, das seit 2018 von der Türkei und dschihadistischen Milizen besetzt ist, sei es ihnen nach Angaben des Anwalts aber praktisch unmöglich, die Reise anzutreten.
In seinem Urteil stellte der Gerichtshof klar, dass das EU-Recht in bestimmten Situationen eine gewisse Flexibilisierung der Abläufe verlange. Andernfalls führten nationale Regelungen, denen zufolge noch im Herkunftsland lebende Angehörige eines Flüchtlings ihre Anträge stets und ausnahmslos persönlich zu stellen hätten, gegebenenfalls „faktisch“ zu einer Aushebelung des durch EU-Normen garantierten Rechts auf Familienzusammenführung. Der Lage von Flüchtlingen, denen die Anreise zu diplomatischen Vertretungen unmöglich sei, müsse Rechnung getragen werden.
Behörden sollten das Einreichen von Anträgen daher auch online oder per Brief zulassen, so der EuGH. Darüber hinaus müssten Mitgliedsstaaten die Familienangehörigen dabei auch entsprechend unterstützen, etwa durch eine Beschränkung der Termine für ein persönliches Erscheinen in diplomatischen Vertretungen auf das notwendige Minimum sowie die Ausstellung von Passierscheinen oder anderen konsularischen Dokumenten. Außerdem sollten Mitgliedstaaten die Überprüfung der familiären Bindungen und der Identität, welche die Anwesenheit der Antragsteller erfordert, idealerweise erst am Ende des Verfahrens vornehmen.
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