IHD zieht für Gefangene aus Efrîn vor Verfassungsgericht

Der IHD will im Fall mehrerer Zivilisten aus Efrîn, die in die Türkei deportiert und als „Terroristen“ verurteilt wurden, Verfassungsbeschwerde einlegen. Es gehe um eine beträchtliche Zahl von Vorwürfen der Grundrechtsverletzung durch den Staat.

Der Menschenrechtsverein IHD will im Fall mehrerer politischer Gefangener aus Efrîn in Nordwestsyrien eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof in Ankara einlegen. Während Besuchen im T-Typ-Gefängnis in der südtürkischen Provinz Hatay sei eine beträchtliche Zahl von Vorwürfen der Grundrechtsverletzung durch den Staat an die örtliche IHD-Zweigstelle herangetragen worden, heißt es in einem Bericht der Organisation. „Menschenrechte haben hinsichtlich der Gefangenen aus Efrîn absolut keine Priorität“, hält der IHD fest. Ihr Alltag sei geprägt von zahlreichen Verstößen gegen internationale Menschenrechtsstandards.

Aus Efrîn verschleppt, als Kriegsgefangene verurteilt

Konkret gibt der IHD-Report Auskunft über die Haftbedingungen jener Gefangenen, die im September 2018 von Söldnern der „Freien Syrischen Armee“ (FSA) aus einem Dorf im Kreis Mabeta festgenommen und nach tagelanger Folter in die Türkei verschleppt worden waren. Es handelte sich um insgesamt elf Zivilisten, die als YPG-Kämpfer kriminalisiert und Opfer unrechtmäßiger Deportationen wurden. Beim nachfolgenden Prozess in Hatay wurden sie Ende 2019 unter dem Vorwurf der „staatsfeindlichen Aktivitäten“ und einer angeblichen Verwicklung in den Tod zweier türkischer Besatzungssoldaten zu Haftstrafen zwischen zwölf Jahren und lebenslänglich verurteilt. Als Beweis dienten unter schwerster Folter und Gewaltandrohungen gegen weibliche Familienmitglieder erpresste Unterschriften unter vorgefertigten Geständnissen.

IHD fordert strafrechtliche Schritte gegen Gefängnisverantwortliche

Der IHD prangert an, dass die Gefangenen aus Efrîn „jeglicher Rechte beraubt“ würden und die Haftbedingungen nicht menschenwürdig seien. „Die mit dem Anspruch auf ein faires Verfahren und auf rechtliches Gehör verbundenen Verfahrensgarantien wurden und werden ausgehöhlt. Die Gefangenen sind standartmäßig Schikanen, psychischer Erniedrigung und Gewalt durch das Gefängnispersonal ausgesetzt. Selbst Mindeststandards in Bezug auf Gesundheit werden nicht eingehalten, da ihr Recht auf Gesundheit absolut nicht anerkannt wird. Zusätzlich sind sie in ihrem Gefühlsleben sehr stark beeinträchtigt, da sie ständige Angsterfahrungen machen“, heißt es in dem Bericht. In der Gesamtschau der tatsächlichen, die Haftsituation bestimmenden Umstände lasse sich somit sagen, dass der Staat seiner Verpflichtung nicht nachgekommen sei, die lebensnotwendigen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, denen er die Freiheit entzogen hat. „Es liegen gravierende Verstöße gegen die staatliche Verpflichtung zur Einhaltung der Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vor.“ Die Zweigstelle des IHD fordert die Justiz auf, umgehend strafrechtliche Schritte gegen die Verantwortlichen der Vollzugsanstalt einzuleiten.

Mehrere Gefangene von FSA angeschossen

Der Bericht zitiert auch die gegenüber dem IHD gemachten Aussagen einiger der Gefangenen. M.M.D. und M.V.I. beispielsweise müssen sich seit vier Jahren eine für acht Häftlinge konzipierte Gemeinschaftszelle mit zwölf Mitinsassen teilen. Ersterem war bei seiner Festnahme durch die FSA, die beim Angriffskrieg auf Efrîn als Hilfstruppe der Türkei agierte, zwei Mal ins Bein geschossen worden. „Dies geschah, weil M.M.D. auf die Frage ‚Bist du Araber oder Kurde?‘ mit ‚Ich bin Kurde‘ antwortete. Zwar wurde der Gefangene auf türkischem Staatsgebiet medizinisch behandelt, jedoch nicht im angemessenen Rahmen. Noch immer befinden sich Hülsen-Schrapnell in verschiedenen Körperteilen, die zu gesundheitlichen Schädigungen beitragen. Darüber hinaus wurde er beim Haftantritt mit Schlägen und Tritten gefoltert.“ Der Bericht gibt auch Angaben von dem Gefangenen M.A.M. wieder, dem in Efrîn von einem FSA-Mitglied in den Fuß geschossen wurde. Er leide seitdem an bakteriellen Infektionen der Knochenrinde sowie des Knochenmarks. Weil er bisher aber nicht in den Genuss einer sorgfältigen und zeitgerechten Krankenhausbehandlung kam, seien die Entzündungen weiter fortgeschritten. Der Gefangene A.S.T., der ebenfalls unter dem Verbleib von Schrotkörnern im Körper leidet, beklagte sich laut dem IHD über verweigerte Gesundheitsmaßnahmen trotz starker chronischer Schmerzen.

Verpflichtung nach einer menschenwürdigen Behandlung nachkommen

Weiter wird festgehalten, dass die Gefangenen aus Efrîn auffällig häufig mit Disziplinarstrafen belegt würden – offenbar aufgrund einer Kombination aus willkürlicher und bewusster Grausamkeit. Der IHD fasst zusammen, dass die Lage der inhaftierten Verschleppten aus Rojava mehr als besorgniserregend sei und im Widerspruch zu nationalem Recht und den wesentlichsten von internationalen Konventionen garantierten Rechten stünde. „Wir fordern die Regierung und alle zuständigen Stellen in der Justiz auf, ihrer Verpflichtung nach einer menschenwürdigen Behandlung aller Gefangenen nachzukommen.“

Efrîn seit 2018 besetzt

Die türkische Invasion in Efrîn begann am 20. Januar 2018. War es der kurdischen Region mit der Revolution von Rojava noch gelungen, sich im Machtvakuum des syrischen Bürgerkriegs von der Herrschaft des Baath-Regimes zu befreien und inmitten eines türkisch-dschihadistischen Kessels eine basisdemokratische Gesellschaftsform aufzubauen, sich ökonomisch, kulturell und politisch weiterzuentwickeln, brachte die „Operation Olivenzweig“, wie die türkische Regierung ihren völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zynisch nannte, Leid, Tod, Plünderung und Zerstörung.

Am 18. März 2018 wurde die bis dato nach dem Kantonsprinzip von Rojava selbstverwaltete Region Efrîn von türkischen Truppen und einer Söldnerarmee von Dschihadisten und Rechtsextremisten besetzt. Seitdem herrscht dort ein Regime des Schreckens und des Terrors. Die kurdische Bevölkerung wurde zum Großteil vertrieben und durch türkeitreue Siedler ersetzt. Hunderttausende Menschen wurden in die Flucht getrieben.

Zivilrechtliche Organisationen gehen davon aus, dass mehrere hundert Personen aus Efrîn sowie den ebenfalls von der Türkei besetzten Städten Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad), darunter auch Mitglieder der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), verschleppt und in der Türkei inhaftiert wurden. Die genaue Anzahl ist allerdings unbekannt, da die Regierung dieses Thema als Staatsgeheimnis behandelt.