Keine Gnade für „Lebenslängliche“ aus Rojava

In Riha und Hatay sitzen mindestens 128 Zivilpersonen aus Rojava mit erschwerten lebenslangen Haftstrafen im Gefängnis – für vermeintliche „Taten zum Nachteil des türkischen Staats“. Laut dem IHD bilden sie aber nur die Spitze des Eisbergs.

Der Fall der zu lebenslanger Haft verurteilten YPJ-Kämpferin Çiçek Kobanê ist das prominenteste Beispiel für die Praxis von Verschleppungen aus der illegalen Besatzungszone in Nordsyrien in die Türkei. Doch nicht nur Mitglieder von Kampfverbänden der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) werden als Kriegsgefangene für vermeintliche „Taten zum Nachteil des türkischen Staats“, die sie in Syrien begangen haben sollen, in die Türkei gebracht und dort nach türkischem Recht verurteilt. Auch zivile Personen finden sich unter den Opfern unrechtmäßiger Deportationen. Laut Menschenrechtsorganisationen wie dem IHD handelt es sich hierbei nicht um Einzeltaten, sondern um ein „systematisches“ und „koordiniertes“ Vorgehen. Die Betroffenen dieser Praxis, die in der Regel von Milizen der unter türkischer Ägide aufgebauten Söldnertruppe „Syrische Nationale Armee“ (SNA) hauptsächlich in Regionen wie Efrîn, Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) festgenommen und an das türkische Militär übergeben werden, seien größtenteils Kurdinnen und Kurden. Diese stellen in den von der Türkei besetzten Gebieten Syriens meistens die Mehrheit der Bevölkerung.

Daten über syrische Kriegsgefangene de facto Staatsgeheimnis

Eine genaue Zahl darüber, wie viele Menschen aus den besetzten Gebieten Nordsyriens sich in der Türkei in Haft befinden, liegt nicht vor. Das Thema ist in Ankara de facto Staatsgeheimnis. Laut dem IHD sitzen aber allein in Gefängnissen der Grenzprovinzen Riha (Urfa) und Hatay mindestens 128 Zivilpersonen aus Rojava ein. „Wir gehen davon aus, dass sie nur die Spitze des Eisbergs sind“, sagt der Rechtsanwalt Mustafa Vefa, der in Riha die Zweigstelle des IHD leitet. In allen Fällen erfolge der Verlauf und die Art und Weise der Deportationen, Strafverfahren und späteren Verurteilungen stets nach dem gleichen Schema: „Diese Menschen wurden an ihren Wohngebieten in Nordsyrien von SNA-Milizionären festgenommen. In den als ‚Beweise‘ gegen sie herangezogenen Festnahmeprotokollen geht hervor, dass sie ‚Straftaten mit Waffengewalt zum Nachteil der SNA‘ begangen hätten. Oftmals finden sich in den Akten in türkischer Sprache verfasste und offensichtlich vorgefertigte ‚Geständnisse‘, in denen die Gefangenen durch ihre Unterschrift einräumen, sich mitgliedschaftlich für einen in der Türkei als Terrororganisation gelisteten Kampfverband betätigt zu haben. Und das, obwohl sie dem Türkischen gar nicht mächtig sind.“

Mustafa Vefa arbeitet seit 2015 als Anwalt in Riha. In seiner Funktion als örtlicher IHD-Vorsitzender ist er immer wieder mit Folterberichten beschäftigt.


Anklageschriften im Copy-Paste-Verfahren

Hier habe sich laut Mustafa Vefa erwiesen, dass körperliche und psychische Folter durch SNA-Söldner als Verhörtaktik eingesetzt wird, um Geständnisse zu erzwingen. Der Vorwurf in den von türkischen Staatsanwälten im Copy-Paste-Verfahren gegen die Gefangenen aus Nordsyrien erstellten Anklageschriften laute stets auf „Untergrabung der Einheit und territorialen Integrität des Staates“, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Mord. Die meisten dieser 128 Gefangenen sind laut der IHD-Zweigstelle Riha nach türkischer Gesetzgebung zu erschwerter lebenslanger Haft in drei Anklagepunkten verurteilt worden. In einigen Fällen wurden die Schuldsprüche sogar bereits in zweiter Instanz bestätigt. Diese Akten liegen nun beim Kassationsgerichtshof (Yargıtay) in Ankara, vergleichbar mit dem Bundesgerichtshof, der über die Zulässigkeit der Revision zu entscheiden hat.

Keine Voraussetzungen für Strafverfolgung in der Türkei

„Bisher haben wir allerdings vergeblich versucht den türkischen Gerichten klarzumachen, dass für die Gefangenen aus Rojava die Voraussetzungen für die Verfolgung von sogenannten Auslandstaten gar nicht vorliegen“, beklagt Vefa. Zunächst bedürfe es für die Strafverfolgung eines Ersuchens des Justizministers oder eines Antrags des Verletzten beziehungsweise Geschädigten. Weitere Voraussetzung ist eine zu erwartende Mindeststrafe. Wurde die Tat zum Nachteil des türkischen Staats oder eines türkischen Staatsangehörigen begangen, so muss sie mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht sein. Ist die Tat dagegen zum Nachteil eines Ausländers begangen, so ist die Verfolgbarkeit noch stärker begrenzt: Es muss eine Mindeststrafe von drei Jahren Freiheitsstrafe vorgesehen sein, und es darf kein Auslieferungsvertrag bestehen oder die Auslieferung nicht gewährt worden sein.

Îbrahim Şêxo ist Sprecher der im nordsyrischen Şehba angesiedelten Menschenrechtsorganisation „Rêxistina Mafên Mirovan li Efrînê-Sûriye“. Unter fünfzig aus Efrîn in die Türkei verschleppten Zivilpersonen, deren Namen der Organisation bekannt sind, befinden sich auch drei Verwandte von Şêxo: Muhammed Oso, Mesoud Oso und Rizan Oso. „Es hat lange gedauert, bis wir erfahren haben, dass die drei in die Türkei entführt worden sind. Doch trotz intensiver Bemühungen ist es uns nicht gelungen in Erfahrung zu bringen, wo sie festgehalten werden. Es ist gut möglich, dass sie extralegal hingerichtet wurden.“ - Îbrahim Şêxo


„Den Gefangenen aus Syrien, die wir betreuen, werden zwar im Ausland begangene Staatsschutzdelikte vorgeworfen. Laut den Gerichten sind die Geschädigten aber die Milizen der SNA. Demzufolge handelt es sich bei den genannten Urteilen ausnahmslos um Verstöße gegen das ‚Genfer Abkommen zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten‘, das unter anderem Deportationen, Inhaftierungen oder demütigende Behandlungen verbietet. Die SNA ist keine reguläre Polizeitruppe der Türkei und besteht nicht aus türkischen Staatsangehörigen. Zudem existiert für die vorgeworfenen Straftaten außer unter Folter erlangte Geständnisse kein einziger Beweis“, so Vefa. Selbst wenn es sich bei den Verschleppten um Kämpferinnen und Kämpfer handeln würde, wäre ihre Verurteilung in der Türkei illegal.

Gefangene haben in vielerlei Hinsicht keine Rechte

Erschwerend für die Gefangenen aus Rojava komme hinzu, dass sie in vielerlei Hinsicht ihrer Rechte beraubt würden. Das Recht auf Verteidigung und Anspruch auf ein faires Verfahren sei faktisch ausgehebelt; Diskriminierung, Folter und Repression stünden auf der Tagesordnung, beklagt der IHD Riha. „Die Bezugspersonen dieser Gefangenen sind in Syrien und können sie daher nicht oder nur selten besuchen – und wenn doch, müssen sie ein aufwendiges Genehmigungsverfahren beim Justizministerium durchlaufen. Kontakt mit der Familie ist daher fast nur über Fernkommunikationsmittel möglich. Doch auch hier werden den Inhaftierten mit Rojava-Bezug juristische Steine in den Weg gelegt, da nur türkische Telefonnummern angewählt werden können. Aus zahlreichen Fällen wissen wir, dass Angehörige oft gar nicht wissen, ob ihre Liebsten überhaupt noch am Leben sind“, erklärt Vefa. Es sei internationales Handeln notwendig, damit der türkische Staat aufhört, syrische Staatsangehörige aus der Besatzungszone zu entführen und sie strafrechtlich zu verfolgen beziehungsweise zu inhaftieren. Auch müssten die Behörden diesen Gefangenen erlauben, ihre Familien in Syrien zu kontaktieren, sagt der Jurist. „Die wichtigste Forderung ist und bleibt aber: Alle syrischen Gefangenen, die auf türkisches Staatsgebiet verschleppt und hinter Gittern geworfen worden sind, müssen unverzüglich in ihre Wohnorte zurückgeführt werden.“