HRW definiert Türkei als Besatzungsmacht

Nach Angaben von Human Rights Watch sind mindestens 63 Menschen in Nordsyrien illegal verhaftet und in die Türkei überführt worden. Die Menschenrechtsorganisation definiert die Türkei als Besatzungsmacht und fordert die sofortige Rückführung.

Der türkische Staat und die sogenannte „Syrische Nationalarmee“ (SNA) haben mindestens 63 syrische Staatsangehörige in Nordostsyrien verhaftet und illegal in die Türkei überführt. Das teilte Human Rights Watch heute in Beirut mit. Die Menschenrechtsorganisation definiert die Türkei als Besatzungsmacht und fordert die sofortige Rückführung der illegal verschleppten Personen.

Laut HRW stellt die Verhaftung in Syrien und die Überführung in die Türkei eine „Verletzung der Verpflichtungen der Türkei als Besatzungsmacht im Nordosten Syriens gemäß der Vierten Genfer Konvention“ dar. „Die türkischen Behörden sind als Besatzungsmacht verpflichtet, die Rechte der Menschen im Nordosten Syriens nach dem Besatzungsrecht zu respektieren, einschließlich des Verbots willkürlicher Verhaftungen und der Überführung von Menschen auf ihr Territorium", sagte Michael Page, stellvertretender Direktor für den Nahen Osten bei Human Rights Watch. „Stattdessen verletzen sie ihre Verpflichtungen, indem sie diese syrischen Männer verhaften und in die Türkei abtransportieren, wo sie sich den zweifelhaftesten und vagesten Anklagen im Zusammenhang mit angeblichen Aktivitäten in Syrien stellen müssen."

Verschleppung in die Türkei ist fortbestehende Praxis

Human Rights Watch hat etwa 4.700 Seiten offizieller türkischer Fallakten über die Verhaftung der 63 syrischen Staatsangehörigen in Syrien einsehen können. Des Weiteren wurden Interviews mit Verwandten und Rechtsanwälten geführt. Laut HRW deuten weitere Belege darauf hin, dass die tatsächliche Zahl der illegal in die Türkei verbrachten Personen fast 200 betragen könnte: „Berichte in regierungsfreundlichen türkischen Nachrichtenquellen beziehen sich auf kürzlich inhaftierte syrische Staatsangehörige, die in die Türkei überstellt wurden, was darauf hindeutet, dass diese Praxis fortbesteht.“

Unbegründete Behauptungen und fehlende Beweise

Die illegal in die Türkei verschleppten syrischen Staatsangehörigen werden wegen „Untergrabung der Einheit und territorialen Integrität des Staates“, Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und Mord angeklagt. Laut HRW stützen sich die Vorwürfe hauptsächlich auf unbegründete Behauptungen, die Inhaftierten hätten Verbindungen zu den YPG: „Die türkische Regierung und die Gerichte betrachten die PYD und die YPG als ein und dasselbe und als eng mit der bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verbunden, mit der die Türkei einen jahrzehntelangen Konflikt in der Türkei führt.“
Die HRW-Recherchen hätten gezeigt, „dass die türkischen Behörden in den meisten Fällen keine Beweise dafür vorgelegt haben, dass die Inhaftierten aktive Kämpfer der kurdisch geführten Behörden waren oder dass sie Verbrechen begangen haben. Familienmitglieder und Verwandte sagten, dass die Inhaftierten administrative oder niedrigrangige Funktionen innerhalb der Partei innehatten.“

Falscher Tatort in Pro-Forma-Anklageschriften

In den von Human Rights Watch überprüften Pro-Forma-Anklageschriften geben die türkischen Strafverfolgungsbehörden als Tatort Şanlıurfa in der Türkei an, aber die detaillierten Berichte, einschließlich einiger Überstellungsdokumente, zeigen, dass das angebliche Fehlverhalten in Syrien stattgefunden haben soll.

Lösegeldforderungen

Vier der von HRW befragten Angehörigen gaben an, die SNA habe sie kurz nach den Festnahmen kontaktiert und um Geld für die Rückführung ihrer Verwandten gefordert. Nur bei einem der Festgenommenen konnte die Familie verhandeln und eine Gebühr von 10.000 US-Dollar für seine Freilassung zahlen. Diese Person wurde nicht in die Türkei überstellt.

Misshandlung von Gefangenen

Die HRW vorliegenden Dokumente enthalten Fotos von einigen Gefangenen, die blaue Flecken, aufgerissene Lippen und andere Anzeichen von Misshandlungen zeigen. Der Bruder eines Inhaftierten sagte, sein Bruder habe ihm am Telefon erzählt, dass er bei seiner Verhaftung von der SNA und später von den türkischen Sicherheitskräften geschlagen worden sei.

Lebenslange Freiheitsstrafen

Fünf Betroffene sind im Oktober 2020 in Riha (tr. Şanlıurfa) zu lebenslanger Haft verurteilt worden. „Nicht nur, dass diese Syrer illegal in die Türkei überstellt wurden, um dort missbräuchlich verfolgt zu werden, sondern in einem außerordentlich grausamen Schritt haben die Gerichte die höchstmögliche Strafe in der Türkei verhängt - lebenslänglich ohne Bewährung", kommentierte der HRW-Vertreter Michael Page das Vorgehen.

Empfehlungen an die Türkei

Human Rights Watch spricht folgende Empfehlungen aus:

„Die türkischen Behörden sollten aufhören, syrische Staatsangehörige aus dem besetzten Gebiet zu überführen und sie in der Türkei zu inhaftieren und zu verfolgen. Die türkischen Behörden sollten sofort allen in ihrem Gewahrsam befindlichen Gefangenen erlauben, ihre Familien zu kontaktieren, ob in der Türkei oder außerhalb, und die Familien über ihren Status informieren. Alle syrischen Gefangenen, die in die Türkei überstellt wurden, sollten unverzüglich in die besetzten Gebiete in Syrien zurückgeführt werden.

Für den Fall, dass überstellte syrische Staatsangehörige weiterhin vor türkischen Gerichten verfolgt werden, sollte das Gericht alle Beweise ausschließen, die durch Zwang oder durch falsche Darstellung des Geltungsbereichs und der Anwendbarkeit von Gesetzen wie dem ,Gesetz zur wirksamen Reue' oder in Situationen, in denen inhaftierten Personen rechtsstaatliche Garantien verweigert wurden, gewonnen wurden.

Als Besatzungsmacht und Unterstützer der lokalen Gruppierungen, die in den von ihnen kontrollierten Gebieten operieren, müssen die türkischen Behörden sicherstellen, dass ihre eigenen Beamten und die ihnen unterstellten Personen niemanden willkürlich inhaftieren, misshandeln oder missbrauchen. Die Behörden sind verpflichtet, mutmaßliche Verstöße zu untersuchen und sicherzustellen, dass die Verantwortlichen angemessen bestraft werden. Befehlshaber, die von Verbrechen wussten oder hätten wissen müssen, die von ihren Untergebenen begangen wurden, aber nichts unternommen haben, um sie zu verhindern oder zu bestrafen, können im Rahmen der Befehlsverantwortung strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.“