Anlässlich der „Internationalen Wochen gegen das Verschwindenlassen in Haft“, die vom 17. bis 31. Mai begangen werden, hat die Amed-Sektion des Menschenrechtsvereins IHD die Türkei aufgefordert, die dunklen Kapitel ihrer Vergangenheit aufzuarbeiten und eine Wahrheitskommission einzusetzen, die das Schicksal von Vermissten klären und Gerechtigkeit herstellen soll. „Der einzige Weg zu sozialem Frieden führt über die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Nur unter diesen Bedingungen wird es unserer Gesellschaft gelingen, nachhaltigen Frieden aufzubauen“, so der IHD.
Mit der Aufarbeitung beginnen müsse der türkische Staat beim Genozid an den Armenierinnen und Armeniern 1915. Der Völkermord an der armenischen Nation im Osmanischen Reich sei eine Realität, der sich die Türkei dringend stellen müsse, betont der IHD. „Der Kampf um die Aufklärung des Schicksals der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, die Opfer von Massakern und politischen Morden wurden, die gewaltsam verschwunden gelassen worden sind, ist ein Kampf, der seit jeher ignoriert wird. Das Beharren darauf, die Wahrheit zu leugnen, dauert bis heute an. Als Kämpfende der Menschenrechte ist es unsere Pflicht, wieder und wieder zum Ausdruck zu bringen, dass die einzige Möglichkeit, ein Leben auf der Grundlage des sozialen Friedens aufzubauen, darin besteht, sich der Vergangenheit zu stellen. Der Schmerz der Angehörigen der Vermissten, das Leid der Samstagsmütter, die seit Jahren um ihre Verschwundenen trauern, kann nur dann gelindert werden, wenn der Staat Verantwortung übernimmt, all diese im Dunkeln verborgenen Ereignisse aufklärt, das Schicksal der Verschwundenen aufdeckt und die Täter ausfindig macht und bestraft.“
Die Samstagsmütter, die seit 1995 analog zu den argentinischen „Madres de la Plaza de Mayo” Woche für Woche in Istanbul in Mahnwachen mit Bildern ihrer Angehörigen gegen deren „Verschwindenlassen“ protestieren und Aufklärung über deren Verbleib fordern, stehen synonym für das Schicksal der Vermissten. Seit den 1980er Jahren gelten in der Türkei tausende Menschen, größtenteils Kurdinnen und Kurden, als „verschwunden”. Mit der Praxis des „Verschwindenlassens” machte das Land nach dem Militärputsch vom September 1980 Bekanntschaft. Mitte der 90er Jahre, als der schmutzige Krieg des türkischen Staates gegen die PKK besonders blutig war, erreichte diese Methode ihren Höhepunkt. Schätzungen gehen von über 17.000 „Verschwundenen“ durch „unbekannte Täter“ – das heißt durch parastaatliche und staatliche Kräfte – während dieser dunklen Periode aus. Die Leichen wurden in Massengräbern, Höhlen oder in stillgelegten Industrieanlagen verscharrt, auf Müllhalden geworfen, in Brunnenschächten und Säuregruben versenkt oder wie in Argentinien durch den Abwurf aus Militärhubschraubern beseitigt. Oft waren die Betroffenen von der Polizei oder der Armee zu Hause abgeholt worden, oder man hatte sie in die Wache vor Ort zu einer „Aussage“ bestellt, oder sie waren bei einer Straßenkontrolle des Militärs festgehalten worden. Das ist oft das letzte, was ihre Angehörigen vom Verbleib der Vermissten wissen. Die meisten „Morde unbekannter Täter“ gehen auf das Konto von JITEM, dem informellen Geheimdienst der türkischen Militärpolizei.
Obwohl inzwischen 28 Jahre seit der ersten Mahnwache der Samstagsmütter vergangenen sind, wird der türkische Staat, so scheint es, praktisch von derselben Mentalität kontrolliert, die mit der Ära des Verschwindenlassens eng verbunden sind, moniert der IHD. Keine der Regierungen habe Schritte hin zur Aufklärung der Fälle des gewaltsamen Verschwindenlassens in Gewahrsam unternommen, obwohl diese Praxis als Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert ist. „Wir müssen feststellen, dass die Herrschenden sich taub stellen und den Widerstand der Samstagsmütter und aller anderen Angehörigen von Verschwundenen ignorieren. Wir als Sektion des IHD in Amed, die seit dem 31. Januar 2009 trotz aller Widrigkeiten und Repressionen Woche für Woche vor dem Menschenrechtsdenkmal im Koşuyolu-Park zusammenkommt, um den Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit zu unterstützen, werden unseren Widerstand fortsetzen. Wir rufen alle Menschen mit Gewissen auf, an unseren Mahnwachen unter der Losung ‚Die Verschwundenen finden – Die Täter bestrafen‘ teilzunehmen.“
An die Regierung in Ankara gerichtet, hat der IHD eine Reihe von Forderungen formuliert, die umgesetzt werden müssten, um den Weg zu Gerechtigkeit zu ebnen:
▪ Das derzeitige Verwaltungs- und Justizsystem, das Straflosigkeit und Ungerechtigkeit hervorbringt, muss so schnell wie möglich in Übereinstimmung mit universellen Rechtsgrundsätzen angepasst werden.
▪ Der Zugang zu allen relevanten Staatsarchiven und Aufzeichnungen von begangenen Menschenrechtsverletzungen muss ermöglicht werden, um das Schicksal der gewaltsam Verschwundenen aufzudecken und die Täter der Opfer zu identifizieren.
▪ Eine Wahrheitskommission zur Aufarbeitung der gewaltsamen Vergangenheit muss eingesetzt werden, damit das Schicksal von Verschwundenen geklärt wird, Gerechtigkeit hergestellt werden kann, verhindert wird, dass sich ähnliches Leid wiederholt und sozialer Frieden herrscht.
▪ Es ist eine zentrale Pflicht der Menschlichkeit, Verbrechen des Verschwindenlassens in Gewahrsam auf der Tagesordnung zu halten, es mit besonderem Interesse zu verfolgen und zu fordern, dass diejenigen, die diese Taten begangen haben, und diejenigen, die dazu angestiftet haben, in Übereinstimmung mit den Gesetzen vor Gericht gestellt werden.
▪ Wir fordern den türkischen Staat auf, seiner Verantwortung für das Verschwindenlassen von Menschen in Gewahrsam in Übereinstimmung mit seinen internationalen Verpflichtungen nachzukommen.
▪ Wir fordern die Regierung auf, unverzüglich das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen zu unterzeichnen.
▪ Wir fordern alle Staaten, die das Verschwindenlassen als Vernichtungspraxis gegen Dissidenten einsetzen, auf, dieses Verbrechen zu unterlassen.