Menschenrechtsorganisationen in der Türkei fordern anlässlich der „Internationalen Wochen gegen das Verschwindenlassen in Haft“ vom 17. bis 31. Mai die uneingeschränkte Aufklärung von Morden in staatlichem Gewahrsam. Zum Auftakt der Aktionswochen haben in Amed (tr. Diyarbakir) und Istanbul Kundgebungen stattgefunden. An der Kundgebung vor dem Justizgebäude in Istanbul-Çağlayan nahmen Mitglieder des Menschenrechtsvereins IHD, der Menschenrechtsstiftung Türkei (TIHV) und der Initiative der Samstagsmütter teil.
Die IHD-Vorsitzende Eren Keskin erklärte vor dem Istanbuler Justizgebäude: „Wir leben im Land der Toten ohne Gräber.“ Die Menschenrechtsanwältin wies darauf hin, dass die Praxis des Verschwindenlassens in staatlichem Gewahrsam insbesondere in den 1990er Jahren sehr ausgeprägt war. Unzählige Fälle sind bis heute nicht aufgeklärt. „Wir wollen, dass die Türkei das UN-Abkommen gegen das Verschwinden unterzeichnet“, forderte Keskin. Damit lasse sich verhindern, dass die von staatlichen Strukturen begangenen Verbrechen verjährten.
Nach der Kundgebung kam es zu einem Polizeiübergriff gegen eine Aktivistin der Samstagsmütter. Hanife Yildiz kämpft seit 27 Jahren für die Bestrafung der Mörder ihres Sohnes Murat Yildiz. Der damals 19-Jährige ist am 23. Februar 1995 in Izmir in Polizeihaft verschwunden. Vor dem Justizgebäude in Çağlayan protestierte Hanife Yildiz gegen das Versammlungsverbot am Galatasaray-Platz, an dem die Samstagmütter jahrzehntelang bis zum Verbot im August 2018 Gerechtigkeit für ihre vermissten Angehörigen einforderten. Gerichtet an den türkischen Innenminister Süleyman Soylu sagte Yildiz: „Eines Tages wirst du vor Gericht stehen.“ Daraufhin wurde sie von der Polizei unter Einsatz von Gewalt festgenommen.
Mahnwachen der Samstagsmütter seit 1995
Synonym für das Schicksal der Verschwundenen stehen die Istanbuler Samstagsmütter, die seit 1995 analog zu den argentinischen „Madres de la Plaza de Mayo” Woche für Woche in Istanbul in Sit-Ins mit Bildern ihrer Angehörigen gegen deren „Verschwindenlassen“ protestieren und Aufklärung über deren Verbleib fordern. Zwischen 1999 und 2009 mussten die Samstagsmütter ihre wöchentlichen Sit-Ins aussetzen, da die Polizei die Versammlungen regelmäßig auflöste.
Am 25. August 2018 kam die Initiative zum 700. Mal auf ihrem angestammten Platz vor dem Galatasaray-Gymnasium in der Istanbuler Fußgängerzone Istiklal Caddesi zusammen, um mit einer friedlichen Mahnwache an ihre verschwundenen Angehörigen zu erinnern. Doch auf Anordnung des türkischen Innenministers Süleyman Soylu fuhr die Polizei mit Wasserwerfern auf und griff die Menschenmenge mit Tränengas und Gummigeschossen an. Das gewaltsame Vorgehen sei berechtigt, weil sich die Samstagsmütter von Terrororganisationen instrumentalisieren lassen würden, hatte Soylu gesagt. Außerdem sei das 700. Treffen in den sozialen Netzwerken auch von Gruppierungen beworben worden, denen der Innenminister eine Nähe zur PKK unterstellt. Daher wolle man der „Ausbeutung und dem Betrug“ ein Ende setzen.
17.000 Verschwundene in der Türkei
In der Türkei gelten seit den 1980er Jahren etwa 17.000 Menschen, größtenteils Kurdinnen und Kurden, politisch Aktive und Engagierte, journalistisch und juristisch Tätige und einfache Landwirte als „verschwunden”. Mit dieser Praxis machte das Land nach dem Militärputsch vom September 1980 Bekanntschaft. Mitte der 1990er Jahre, als der schmutzige Krieg des türkischen Staates gegen die PKK besonders blutig war, erreichte diese Methode ihren Höhepunkt.
Die Leichen der Verschleppten wurden in Massengräbern, Höhlen oder in stillgelegten Industrieanlagen verscharrt, auf Müllhalden geworfen, in Brunnenschächten und Säuregruben versenkt oder wie in Argentinien durch den Abwurf aus Militärhubschraubern beseitigt. Oft waren die Betroffenen von der Polizei oder der Armee zu Hause abgeholt worden, oder man hatte sie in die Wache vor Ort zu einer „Aussage“ bestellt, oder sie waren bei einer Straßenkontrolle des Militärs festgehalten worden. Das ist oft das letzte, was ihre Angehörigen vom Verbleib der Vermissten wissen. Die meisten „Morde unbekannter Täter“ gehen auf das Konto der religiös-extremistischen Terrororganisation Hizbullah sowie von JITEM. So lautet die Bezeichnung für den informellen Geheimdienst der türkischen Militärpolizei, der für mindestens vier Fünftel der unaufgeklärten Morde in Nordkurdistan verantwortlich ist und dessen Existenz jahrelang vom Staat geleugnet wurde.