Freispruch im Terrorverfahren gegen Dr. Şeyhmus Gökalp

Der in Amed praktizierende Arzt Dr. Şeyhmus Gökalp, Mitglied im Ehrenrat des türkischen Ärzteverbands TTB, ist vom Vorwurf der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation freigesprochen worden.

Der Arzt Dr. Şeyhmus Gökalp ist vom Vorwurf, Mitglied in einer bewaffneten Terrororganisation zu sein, freigesprochen worden. Ein türkisches Gericht in der nordkurdischen Metropole Amed (tr. Diyarbakir) urteilte am Freitag, dass die Anklage keine überzeugenden Beweise dafür vorlegen konnte, den 44-Jährigen nach Art. 314 Abs. 2 TCK (türkisches Strafgesetzbuch) zu verurteilen. Das Verfahren sei mit einem Freispruch abzuschließen.

Şeyhmus Gökalp gehört zu fünf Personen, die am 23. November 2020 im Zusammenhang mit einem Verfahren gegen die zivilgesellschaftliche Organisation „Demokratischer Gesellschaftskongress“ (ku. Kongreya Civaka Demokratîk, KCD) verhaftet worden waren. Nach zweieinhalb Monaten in Untersuchungshaft kam der Arzt, der Mitglied im Ehrenrat des türkischen Ärzteverbands TTB ist und von 2014 bis 2018 die Zweigstelle in Amed leitete, am 10. Februar dieses Jahres frei. Die Oberstaatsanwaltschaft forderte bis zu fünfzehn Jahre Haft für Gökalp, widmete sich auf 54 Seiten der insgesamt 55-seitigen Anklageschrift aber dem KCD.

EGMR: KCD ist legal

Der KCD gilt als Gerüst der demokratischen Gesellschaftsorganisierung in Nordkurdistan. Trotz gegenteiliger Bewertung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wurde die Einrichtung von der türkischen Regierung als „PKK-Struktur“ deklariert – entsprechend ist die Behandlung durch die Justizbehörden. Die Kriminalisierung des KCD geht einher mit einem politischen Vernichtungsfeldzug gegen den kurdischen Teil der Bevölkerung, der inzwischen seit mehr als sechs Jahren andauert. Die Generalstaatsanwaltschaft von Diyarbakir glaubt zu wissen, dass die Plattform auf „Anordnung“ des inhaftierten PKK-Begründers Abdullah Öcalan mit dem erklärten Ziel, die „Einheit und Integrität des türkischen Staates“ und damit die Essenz des Türkentums zu zerstören, ins Leben gerufen wurde.

Şebnem Korur Fincancı (l.) und Şeyhmus Gökalp (m.) geben nach der Verhandlung eine Erklärung ab

Indizien gegen Gökalp: Namenskarten und angebliche Zeugenaussagen

Im Fall der Anklage gegen Şeyhmus Gökalp liegt kein einziger Beweis für eine Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation vor. Die Staatsanwaltschaft stützt ihre Vorwürfe hauptsächlich auf Aussagen der Kronzeugin Hicran Berna Ayverdi, die bereits in zahlreichen Prozessen gegen führende kurdische Persönlichkeiten aus Politik und Zivilgesellschaft aufgetreten ist, darunter auch im Verfahren gegen den Arzt Adnan Selçuk Mızraklı, der zudem abgesetzter Oberbürgermeister von Amed ist. Ayverdi gab in dem Verfahren an, über andere Personen in Erfahrung gebracht zu haben, dass Gökalp „Mitglied der Gesundheitskommission des KCD“ sei. Als weitere „Beweise“ gegen den 1977 in Nisêbîn geborenen Mediziner werden Namenskarten herangezogen, die er als Gast bei Veranstaltungen des KCD erhalten hatte. Diese Kärtchen waren 2018 im Rahmen einer Polizeirazzia beschlagnahmt worden, als Gökalp wegen des Ärzteappells „Krieg ist ein Problem der Volksgesundheit“ im Zusammenhang mit dem välkerrechtswidrigen Angriff auf Efrîn festgenommen wurde.

Solidarische Prozessbegleitung drinnen wie draußen

Das Verfahren gegen Gökalp wurde an der 10. Großen Strafkammer zu Diyarbakir verhandelt, drinnen wie draußen gab es eine solidarische Prozessbeobachtung – und zahlreiche Sicherheitskräfte. Im Saal saßen unter anderem die bekannte Forensikerin und TTB-Chefin Şebnem Korur Fincancı, der Generalsekretär des Zentralrats der Ärztekammer, Prof. Dr. Vedat Bulut, das Zentralratsmitglied Dr. Halis Yerlikaya, der Chefredakteur der TTB-Zeitschrift Toplum ve Hekim Dergisi Dr. Onur Hamzaoğlu, die früheren Vorsitzenden der Ärztekammer Özdemir Aktan, Eris Bilaloğlu und Raşit Tükel sowie alle Mitglieder des Ehrenrats, die Verantwortlichen der Kammern in den Städten Ankara, Izmir, Istanbul, Bursa, Êlih (Batman), Mêrdîn, Riha (Urfa) und Amed. Auch Mitglieder der örtlichen Rechtsanwaltskammer sowie Politikerinnen und Politiker der HDP und DBP beobachteten den Prozess.

„Ich versuche, das Leben und die Gesundheit der Menschen zu schützen“

Vertreten wurde Şeyhmus Gökalp vor dem Kollegialgericht von Ziynet Özçelik, Kerem Altıparmak und Barış Yavuz. In seiner Verteidigungsrede wies der Arzt alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe entschieden zurück und erklärte: „Die einzige Organisation, deren Mitglied ich bin, ist die TTB.“ Er fügte hinzu, ein Verfechter der universellen Menschenrechte zu sein. „Nie habe ich mich an illegalen Aktivitäten beteiligt, weder beruflich noch privat. Ich bin nicht über die mir angebotenen Rechte und Freiheiten hinausgegangen. Seit 18 Jahren praktiziere ich Medizin und halte mich an die Pflichten der Charta zur ärztlichen Berufsethik. Ich versuche, das Leben und die Gesundheit der Menschen zu schützen, Krankheiten zu verhindern und Patienten zu heilen, indem ich wissenschaftliche Anforderungen erfülle, den Schutz der Menschenwürde und Gerechtigkeit verteidige.“

Daran anschließend kamen die Verteidiger:innen von Gökalp zu Wort und wiesen das Gericht auf den Verfolgungswahn türkischer Sicherheitsbehörden gegen vermeintliche Feinde der Republik hin. Ziynet Özçelik sprach davon, dass die Staatsanwaltschaft Diyarbakir zwar Indizien, Möglichkeiten und Verschwörungstheorien präsentiert habe, aber keinen einzigen Beweis für die behauptete Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vorlegen konnte. Kerem Altıparmak äußerte, das Gericht sei Zeuge einer Prozessfarce geworden in der versucht worden sei, das Engagement eines Arztes und Menschenrechtsverteidigers in konstruierte terroristische Straftaten umzuwidmen. Sein Kollege Barış Yavuz wies das Gericht auf ein anderes KCD-Verfahren in Amed hin, bei dem es erst kürzlich einen Freispruch gab.

Nach einer kurzen Unterbrechung der Verhandlung sprachen die Richter Şeyhmus Gökalp einstimmig frei, das Ausreiseverbot gegen den Mediziner wurde aufgehoben. Im Saal und vor dem Justizpalast brach daraufhin tosender Applaus aus. Die Kolleginnen und Kollegen des Arztes zeigten sich erleichtert. Şebnem Korur Fincancı sprach von einem „unnötigen Prozess“, den es nie hätte geben dürfen. „Ein Jahr lang mussten wir uns mit einer Mentalität konfrontiert sehen, die das Wirken von Ärztinnen und Ärzte eingeschränkt hat. Damit sind wir Medizinerinnen und Mediziner aber nicht allein. Die angesprochene Mentalität wirkt sich auf das ganze Land aus“, so Fincancı.

Hintergrund: Was will die Regierung vom KCD?

Der Demokratische Gesellschaftskongress fungiert als Dachverband politischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen, religiöser Gemeinden sowie Frauen- und Jugendorganisationen. Er versteht sich als gesellschaftlicher Gegenentwurf zu staatlichen Strukturen, der – gestützt auf Räte- und Basisdemokratie – Konzepte zur Selbstorganisierung der Bevölkerung und Alternativen der kommunalen Selbstverwaltung erarbeitet. Der KCD besteht aus etwa 1000 Delegierten, von denen 60 Prozent durch die Bevölkerung direkt gewählt und 40 Prozent aus zivilgesellschaftlichen Organisationen benannt werden, und ist in Kommissionen gegliedert. Sowohl innerhalb des Dachverbands wie auch in den Stadtteilräten und Stadträten gibt es keine Frauenquote, sondern eine Geschlechterquote. Das bedeutet, dass der Anteil von Frauen beziehungsweise Männern 40 Prozent nicht unterschreiten darf.

Von Öcalan für demokratische Gesellschaftsorganisierung vorgeschlagen

Bereits im Jahr 2005 von Abdullah Öcalan als Projekt für die demokratische Organisierung der Gesellschaft vorgeschlagen, wurden zunächst große Diskussionsveranstaltungen durchgeführt, bis im Folgejahr die erste Vollversammlung organisiert wurde. Am 14. Juli 2011 fand in Amed ein Kongress mit über 800 Teilnehmenden aller ethnischen, politischen und religiösen Strukturen in Kurdistan statt. An die gemeinsame Erklärung der Versammlung anschließend wurde die Demokratische Autonomie ausgerufen. In dem veröffentlichten Modellentwurf werden acht Dimensionen aufgeführt: die politische, die juristische, die der Selbstverteidigung, die kulturelle, die soziale, die wirtschaftliche, die ökologische und die diplomatische. Die Satzung richtet sich nicht nach den Gesetzen der Türkei, sondern nimmt die demokratische Teilhabe der Bevölkerung als Grundlage.

Langjährige Zusammenarbeit der Regierung mit KCD beim Lösungsprozess

Obwohl der KCD als höchstes Gremium der Demokratischen Autonomie unmittelbar nach seinem Gründungskongress kriminalisiert und mit Ermittlungsverfahren überzogen wurde, arbeitete die türkische Regierung zwischen 2005 und 2014 intensiv mit dem Dachverband zusammen, um gemeinsam den damals möglichen Friedensprozess zu verhandeln. Der KCD wurde von der AKP sogar gebeten, an einer neuen Verfassung für die Türkei mitzuarbeiten. Der damalige Ko-Vorsitzende Hatip Dicle gehörte zudem zur sogenannten „Imrali-Delegation“, die im Rahmen des Lösungsprozesses eine Vermittlerrolle zwischen Abdullah Öcalan und der türkischen Regierung eingenommen hatte. Auch nachdem der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep Tayyip Erdoğan im Sommer 2015 die Friedensverhandlungen einseitig abbrach, wurde der KCD nicht verboten. Aktuell sieht die türkische Führung den KCD als sogenannten Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

Diese Meldung wurde am 20. November 2021 um 16.12 Uhr aktualisiert