Bis zu 15 Jahre Haft für Mehmet Şerif Çamçı gefordert
Dem HDP-Politiker und früheren Vorsitzenden der per Notstandsdekret verbotenen Lebensmittelbank Sarmaşık, Mehmet Şerif Çamçı, drohen in der Türkei bis zu 15 Jahre Haft.
Dem HDP-Politiker und früheren Vorsitzenden der per Notstandsdekret verbotenen Lebensmittelbank Sarmaşık, Mehmet Şerif Çamçı, drohen in der Türkei bis zu 15 Jahre Haft.
Zwei Jahre nach den ersten Haftbefehlen bei der Operation gegen den zivilgesellschaftlichen Dachverband „Demokratischer Gesellschaftskongress“ (KCD) in Amed (tr. Diyarbakir) geht der Prozess gegen Mehmet Şerif Çamçı vor der 4. Großen Strafkammer dem Ende entgegen. Beim zehnten Verhandlungstag an diesem Donnerstag hielt die Staatsanwaltschaft ihr Plädoyer und forderte bis zu 15 Jahre Haft für den früheren Provinzverbandsvorsitzende der HDP. Der Politiker wird der Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation beschuldigt. In dem Prozess sind mehr als hundert Personen angeklagt, einige wurden bereits verurteilt.
Der KCD (ku. Kongreya Civaka Demokratîk) gilt als Gerüst der demokratischen Gesellschaftsorganisierung in Nordkurdistan. Trotz gegenteiliger Bewertung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wurde die Einrichtung von der türkischen Führung als „PKK-Struktur“ deklariert – entsprechend ist die Behandlung durch die Justizbehörden. Die Kriminalisierung des KCD geht einher mit einem politischen Vernichtungsfeldzug gegen den kurdischen Teil der Bevölkerung, der inzwischen seit mehr als sechs Jahren andauert. Die Staatsanwaltschaft von Diyarbakir glaubt zu wissen, dass die Plattform auf „Anordnung“ des inhaftierten PKK-Begründers Abdullah Öcalan mit dem erklärten Ziel, die „Einheit und Integrität des türkischen Staates“ und damit die Essenz des Türkentums zu zerstören, ins Leben gerufen wurde. Als Beweis gegen Çamçı wird dessen angebliche Teilnahme an Versammlungen und Aktionen des KCD angeführt. Er sei dort gewesen, um „dem Plan der Organisation“ zum Erfolg zu verhelfen.
Persönlich anwesend war Çamçı im Gerichtssaal nicht, sondern ließ sich von seinen Rechtsanwälten Mesut Beştaş und Mehmet Öner vertreten. Bei den Juristen führte das nach einem fiktiven Fantasiegebilde klingende Plädoyer der Staatsanwaltschaft zu Kopfschütteln. Das Plädoyer der Verteidigung soll bei der nächsten Verhandlung am kommenden Samstag gehalten werden.
Als Sarmaşık-Vorsitzender im Fadenkreuz der Justiz
Im Rahmen des Verfahrens gegen den KCD saß Mehmet Şerif Çamçı ab Oktober 2018 für rund drei Monate in Untersuchungshaft. Im Fadenkreuz der türkischen Justiz befindet er sich aber schon länger. Çamçı war Vorsitzender des in Amed ansässigen Vereins „Sarmaşık – Yoksullukla Mücadele ve Sürdürebilir Kalkınma Derneği“ (zu deutsch „Efeu – Vereinigung für eine fortschrittliche verbesserte Entwicklung und zur Bekämpfung der Armut“). Seit 2005 versuchte die von etwa 30 Organisationen zur Armutsbekämpfung gegründete Einrichtung der schwierigen Lage in Amed entgegenzutreten. Sarmaşık’s primäres Ziel war es, die Armut mit gezielten Projekten dauerhaft zu beseitigen, aber auch die alltägliche Grundversorgung der bedürftigsten Menschen zu sichern. Der Verein betrieb eine Lebensmittelbank und bot ähnlich wie die Tafeln in Deutschland armen Menschen den regelmäßigen Bezug von Lebensmitteln an. Außerdem erhielten Kinder und Jugendliche von finanziell benachteiligten und an Kriegsfolgen leidenden Eltern eine nachhaltige Bildungsunterstützung. Über ein Auswahlverfahren wurden sie ermittelt, über ihre Schulzeit hinweg bis zum Studium finanziell und pädagogisch unterstützt. Darüber hinaus wurden verschiedene sozialpädagogische Projekte während der Schulzeit und in den Ferien angeboten. Nach elf Jahren erfolgreicher Arbeit kam das Aus: Unter den 370 Vereinen, die im Herbst 2016 im Zuge des Pseudoputschs durch einen Erlass des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan auf Grundlage fadenscheiniger Terrorvorwürfe verboten wurden, befand sich auch Sarmaşık.
EGMR: KCD ist legal
Die Große Kammer des EGMR hat in ihrem Urteil vom 22. Dezember 2020 zu Selahattin Demirtaş nicht nur die Freilassung des früheren HDP-Vorsitzenden angeordnet, sondern das Verhältnis zwischen Politik und Justiz in der Türkei gründlich aufgearbeitet. Das Urteil zeigt auf, wie die politischen Entwicklungen der vergangenen Jahre über die Justiz organisiert wurden und bewertet die Verhaftungswelle vom 4. November 2016 gegen Politikerinnen und Politiker der HDP und ihrer Schwesterpartei DBP insgesamt. Das Urteil zeigt nicht nur auf, dass sie rechtswidrig verhaftet wurden, sondern insgesamt über die Justiz kriminalisiert werden. Zum KCD kommt das Straßburger Gericht zu dem Urteil, dass der zivilgesellschaftliche Zusammenschluss eine legale Organisation ist und die Betätigung für ihn kein Beweis für die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation sein kann.
Hintergrund: Was will die Regierung vom KCD?
Der Demokratische Gesellschaftskongress fungiert als Dachverband politischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen, religiöser Gemeinden sowie Frauen- und Jugendorganisationen. Er versteht sich als gesellschaftlicher Gegenentwurf zu staatlichen Strukturen, der – gestützt auf Räte- und Basisdemokratie – Konzepte zur Selbstorganisierung der Bevölkerung und Alternativen der kommunalen Selbstverwaltung erarbeitet. Der KCD besteht aus etwa 1000 Delegierten, von denen 60 Prozent durch die Bevölkerung direkt gewählt und 40 Prozent aus zivilgesellschaftlichen Organisationen benannt werden, und ist in Kommissionen gegliedert. Sowohl innerhalb des Dachverbands wie auch in den Stadtteilräten und Stadträten gibt es keine Frauenquote, sondern eine Geschlechterquote. Das bedeutet, dass der Anteil von Frauen beziehungsweise Männern 40 Prozent nicht unterschreiten darf.
Von Öcalan für demokratische Gesellschaftsorganisierung vorgeschlagen
Bereits im Jahr 2005 von Abdullah Öcalan als Projekt für die demokratische Organisierung der Gesellschaft vorgeschlagen, wurden zunächst große Diskussionsveranstaltungen durchgeführt, bis im Folgejahr die erste Vollversammlung organisiert wurde. Am 14. Juli 2011 fand in Amed ein Kongress mit über 800 Teilnehmenden aller ethnischen, politischen und religiösen Strukturen in Kurdistan statt. An die gemeinsame Erklärung der Versammlung anschließend wurde die Demokratische Autonomie ausgerufen. In dem veröffentlichten Modellentwurf werden acht Dimensionen aufgeführt: die politische, die juristische, die der Selbstverteidigung, die kulturelle, die soziale, die wirtschaftliche, die ökologische und die diplomatische. Die Satzung richtet sich nicht nach den Gesetzen der Türkei, sondern nimmt die demokratische Teilhabe der Bevölkerung als Grundlage.
Langjährige Zusammenarbeit der Regierung mit KCD beim Lösungsprozess
Obwohl der KCD als höchstes Gremium der Demokratischen Autonomie unmittelbar nach seinem Gründungskongress kriminalisiert und mit Ermittlungsverfahren überzogen wurde, arbeitete die türkische Regierung zwischen 2005 und 2014 intensiv mit dem Dachverband zusammen, um gemeinsam den damals möglichen Friedensprozess zu verhandeln. Der KCD wurde von der AKP sogar gebeten, an einer neuen Verfassung für die Türkei mitzuarbeiten. Der damalige Ko-Vorsitzende Hatip Dicle gehörte zudem zur sogenannten „Imrali-Delegation“, die im Rahmen des Lösungsprozesses eine Vermittlerrolle zwischen Abdullah Öcalan und der türkischen Regierung eingenommen hatte. Auch nachdem der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep Tayyip Erdoğan im Sommer 2015 die Friedensverhandlungen einseitig abbrach, wurde der KCD nicht verboten. Aktuell sieht die türkische Führung den KCD als sogenannten Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).