Familie von Fatma Elarslan legt Verfassungsbeschwerde ein

Die Familie der im März 2016 in Hezex während der Militärbelagerung im Alter von zwölf Jahren von türkischen Sicherheitskräften ermordeten Fatma Erarslan hat Beschwerde beim Verfassungsgericht eingelegt.

Die Familie der vor fünf Jahren in Hezex von Sicherheitskräften getöteten Fatma Elarslan hat Beschwerde beim türkischen Verfassungsgericht eingelegt. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Einstellungsvermerke durch Justizbehörden, die in mehreren Punkten eine Grundrechtsverletzung darstellen, teilte Rechtsanwalt Veysel Vesek, der die Familie des Mädchens juristisch vertritt, mit. Fatma Elarslan war erst zwölf Jahre alt, als sie am 7. März 2016 in der nordkurdischen Stadt Hezex (Idil) bei Şirnex (Şırnak) während den Ausgangssperren ums Leben kam.

Türkische Justiz: Mädchen war „neutralisierte Terroristin”

Mit der Verfassungsbeschwerde wehren sich die Eltern von Fatma Elarslan gegen behördliche und gerichtliche Entscheidungen, die Ermittlungen einzustellen und keine öffentliche Anklage anzuordnen. Laut türkischer Justiz sei ihre Tötung juristisch legitim, da sie eine im Zuge von Auseinandersetzungen „neutralisierte Terroristin” gewesen sein soll. Einziger „Beweis”: Die Aussagen einer anonym gehaltenen „Zeugin”, die laut Vesek in rund 300 Prozessen gegen Personen aus Hezex auftritt, die sich am Widerstand für Selbstverwaltung beteiligt haben sollen. Vesek begründet die Verfassungsbeschwerde damit, dass die polizeilichen und staatsanwaltlichen Ermittlungen nicht unvoreingenommen gewesen seien sowie lückenhaft durchgeführt wurden. Außerdem widerspreche die Diskreditierung Fatmas als „Terroristin” der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN). Vesek verweist auch auf Protokolle der türkischen Sicherheitsbehörden über Zusammenstöße während der Ausgangssperren in Hezex. Denn selbst laut der Polizei habe es am Todestag von Fatma Elarslan keinerlei Gefechte zwischen bewaffneten Gruppen und Sicherheitskräften gegeben.

Fatma Erarslans Ausweis

Die Geschichte

Anfang September 2015 verhängte der türkische Staat über Hezex eine Ausgangssperre. Es war die erste einer bis zum Frühjahr 2017 nicht abreißenden Kette von Ausgangssperren, da zuvor in einer Reihe kurdischer Städte und Gemeinden die Selbstverwaltung proklamiert worden war. Im Verlauf der Militärbelagerung in Nordkurdistan kamen offiziellen Angaben zufolge 1464 Menschen ums Leben. Die Dunkelziffer dürfte jedoch weit höher liegen. In Hezex wurden mindestens 127 Menschen Opfer der türkischen Staatsgewalt. Eines von ihnen war Fatma Elarslan. Als am 16. Februar 2016 erneut eine Ausgangssperre über die Stadt ausgerufen wurde, war die Siebtklässlerin draußen am Spielen. Nachdem türkische Sicherheitskräfte in ihrem Viertel einrückten, flüchtete sie sich Zeugenangaben zufolge in ein Haus. Am Abend des 7. März 2016 identifizierte eine Tante den Leichnam des Mädchens im staatlichen Krankenhaus der 130 Kilometer entfernten Stadt Mêrdîn (Mardin). Hätte Fatma Elarslan gelebt, wäre sie einen Monat später dreizehn Jahre alt geworden.

Tod durch Schusswunden und Verletzungen durch Explosion von Munition

Laut Ermittlungsakte wurde Elarslans lebloser Körper unter einem Steinhaufen an einem öffentlichen Platz im Stadtzentrum von Hezex gefunden. Neben ihr lagen auch die Leichen von neun weiteren Personen. Der Autopsiebericht besagt, dass ihr Tod durch Schusswunden und Verletzungen durch die Explosion von Munition verursacht wurde. „Faktisch bedeutet das, dass Fatma extralegal exekutiert worden ist”, sagt Rechtsanwalt Veysel Vesek. Aus welchen Schusswaffen die Projektile abgefeuert wurden, sei aber nicht festzustellen, heißt es weiter in der Akte. Dies sei ohnehin überflüssig, da es sich wie bei den anderen Toten auch bei Fatma Elarslan um ein „Mitglied der Organisation” – gemeint ist die PKK – gehandelt hätte. Durch die Zeugenaussagen sei festgestellt worden, dass das Mädchen an „bewaffneten Handlungen gegen Polizisten teilnahm” und „bei Zusammenstößen von Sicherheitskräften getötet wurde”. Die Beamten hätten nicht fehlerhaft gehandelt, da sie lediglich den „im Zuge der Ausgangssperren erteilten Befehlen” nachkamen. „Um einen Operationsbefehl zu erfüllen, hielten sie [die Sicherheitskräfte] sich in Vierteln auf, in denen Organisationsmitglieder Angriffe mit Waffen und Bomben ausführten. Somit war ihr Handeln [die Tötung von Fatma Elarslan] juristisch legitim.”

Letzter Schritt: Gang zum EGMR

Alle bisherigen Rechtsbehelfe vor Fachgerichten zur Abwehr des Grundrechtsverstoßes endeten im Fall von Fatma Elarslan mit derselben Begründung: es bestehe kein Anlass, die Wiederaufnahme der Ermittlungen anzuordnen, da „nach Sichtung der Beweise die Annahme, dass mögliche Tatverdächtige freigesprochen werden, wahrscheinlich ist“. Im Übrigen sei das Opfer „bereits tot“. Wegen eines Verfahrenshindernisses seien daher auch posthum keine weiteren Ermittlungen zu führen. Sollte Vesek mit der Beschwerde beim Verfassungsgericht ebenfalls scheitern, bleibt nichts anderes übrig als der Gang zum EGMR in Straßburg.

Etliche ähnliche Fälle

„In den kurdischen Regionen gibt es etliche Fälle von Minderjährigen, die im Verlauf der Ausgangssperren getötet worden sind. Auch ihre Ermittlungsakten wurden mit diesen Begründungen geschlossen”, beklagt Vesek. „Wenn wir in diesem Land wirklich über Rechtstaatlichkeit und Gerechtigkeit sprechen wollen, müssen wir zuerst aufhören, für die Ermordung von Kindern eine juristische Grundlage zu schaffen. Ihr Tod ist nicht legitim. Dieses Unrecht muss gesühnt werden.”