Der Familienanwalt der seit mittlerweile 255 Tagen in Dersim vermissten kurdischen Studentin Gülistan Doku wird von den türkischen Sicherheitsbehörden der Preisgabe von vertraulich zu behandelnden Ermittlungsergebnissen beschuldigt. Ein entsprechendes Verfahren gegen den Juristen Ali Çimen ist von der Generalstaatsanwaltschaft in Dersim angestrengt worden. Bei einer Verurteilung drohen dem Anwalt bis zu drei Jahre Haft.
Gülistan Doku wird seit dem 5. Januar vermisst, Frauenorganisationen befürchten ein Gewaltverbrechen, das vom Sicherheitsapparat vertuscht wird. Als möglicher Täter käme Zainal A., der Ex-Freund der Kindheitspädagogik-Studentin, in Frage. Dieser ist inzwischen untergetaucht und wird allem Anschein nach vor Strafverfolgung geschützt. Der russlandstämmige Mann hatte nur einen Tag vor dem Verschwinden der 21-Jährigen mit Gewalt versucht, die junge Frau in sein Auto zu zerren. Doku wehrte sich und Passant*innen, die das Geschehen beobachtet hatten, verständigten die Polizei.
Die Behörde schloss Zainal A., dessen Stiefvater - mittlerweile suspendierter - Polizeibeamter in Dersim ist, jedoch relativ früh als Tatverdächtigen aus. Eine Spur hat die Polizei aber auch nicht, obwohl fast jede Gegend der Provinz Dersim mit Überwachungskameras und Richtmikrofonen 24 Stunden am Tag observiert wird. Stattdessen wird gemutmaßt, die Studentin habe Selbstmord begangen, weil Doku am Tag ihres Verschwindens auf einer Stauseebrücke von einer Autokamera eingefangen wurde. Dennoch musste die Familie der jungen Frau über Monate dafür kämpfen, dass die Uzunçayır-Talsperre entleert wird. Eine unabhängige Auswertung der Videoaufnahmen des Fahrzeugs sowie Messungen der Wasserbewegungen hatten aber zwischenzeitlich ergeben, dass ein möglicher Selbstmord oder Sturz in den Stausee an dem Tag auszuschließen ist.
Rechtsanwalt Ali Çimen
Genau diese Informationen hatte Ali Çimen im August der Öffentlichkeit mitgeteilt, und soll sich deshalb wegen des Vorwurfs der „Verletzung der Geheimhaltung von Ermittlungen“ verantworten. Der Jurist ist empört: „Statt sich mit mir auseinanderzusetzen sollte die Staatsanwaltschaft ihre Energie auf die Aufklärung des Schicksals von Gülistan Doku verwenden. Eine 21 Jahre alte junge Frau ist seit Monaten vom Erdboden verschwunden. Statt sich auf die Suche nach ihr zu konzentrieren, werden Ermittlungen gegen mich eingeleitet“, kritisiert Çimen. Verwundert sei er dennoch nicht: „Bekanntermaßen haben die gleichen Behörden kürzlich die Festnahme von Familienmitgliedern der vermissten Gülistan angeordnet. Eigentlich ist das, was sich hier abspielt, eine Tragödie. Aber mit einem positiven Aspekt: unsere Entschlossenheit wird durch das Verhalten der Sicherheits- und Justizbehörden gestärkt.“