Dokumentation zu Todesfällen in Gewahrsam geht online

Pünktlich zum internationalen Tag gegen Polizeigewalt am 15. März hat die Kampagne „Death in Custody“ ihre Recherche-Ergebnisse auf einer neuen Website verankert. Die Liste ist lang.

Die Kampagne „Death in Custody“ hat zum internationalen Tag gegen Polizeigewalt am 15. März ihre bisherigen Befunde zur Verschränkung von Rassismus und Tod in Gewahrsam oder durch die Polizei in Deutschland auf einer eigenen Homepage zusammengestellt. Die Liste der Recherche-Ergebnisse ist lang. Nachfolgend dokumentieren wir ungekürzt eine Stellungnahme der Kampagne:

Berichte über Tod in Gewahrsam reißen nicht ab. Am 6. März 2021 starb Qosay Sadam Khalaf in Delmenhorst nach einer gewaltsamen Festnahme durch die Polizei. Der 19-Jährige wurde am 5. März in einem Park von der Polizei verfolgt, die eine Drogenkontrolle durchführen wollte. Die Polizist:innen setzten Pfefferspray ein, schlugen und fesselten ihn. Anschließend brachten sie ihn zur Wache, wo er plötzlich kollabiert sein soll. Am Abend des nächsten Tages starb er im Krankenhaus. Die Polizei spricht von einem „tragischen Unglücksfall“. Doch unter Qosay Sadam Khalafs Freunden ist bekannt, dass Festgenommene häufig auf der Wache zusammengeschlagen werden. Sie vermuten, dass dies zu seinem Tod führte.

Opfer tödlicher Polizeigewalt werden nach ihrem Tod kriminalisiert

In der medialen Berichterstattung wird Qosay Sadam Khalaf zum Täter gemacht. Etliche Artikel übernehmen die Darstellung der Polizei, er habe sich gewaltsam gegen seine Festnahme gewehrt und einen Polizisten geschlagen. Berechtigte Fragen nach den Ursachen, die zum Tod des jungen Geflüchteten geführt haben und Kritik am Verhalten der Beamt:innen werden als „Hetze gegen die Polizei“ diffamiert. Eine Demonstration in Gedenken an Qosay Sadam Khalaf in Frankfurt wurde brutal von der Polizei angegriffen.

All dies ist nicht neu: Von Oury Jalloh, Christy Schwundeck, Hussam Fadl, Matiullah Jabarkhil, Aman Alizada und Mohamed Idrissi wissen wir, dass Opfer tödlicher Polizeigewalt nach ihrem Tod kriminalisiert werden, um die Gewalt gegen sie zu rechtfertigen.

Diese Muster zeigen sich auch in unserer Recherche zu Tod in Gewahrsam, die wir zum Internationalen Tag gegen Polizeigewalt auf einer eigenen Homepage veröffentlichen. Es handelt sich um die erste umfassende Dokumentation von Todesfällen in Gewahrsam und aufgrund tödlicher Polizeigewalt in der BRD. Sie basiert zentral auf den Recherchen der Antirassistischen Initiative, der Zeitschrift CILIP und der Arbeit der vielen Initiativen, die sich für die Aufklärung einzelner Todesfälle einsetzen. Seit 1990 sind uns 181 Fälle bekannt.

Menschen werden durch Haftbedingungen systematisch in den Tod getrieben

Rassistische Staatsgewalt hat viele Gesichter: Neben direkter Gewaltausübung wie Erschießen, zu Tode prügeln und Brechmittelfolter dokumentieren wir auch strukturelle Formen von Gewalt, darunter rund 90 Todesfälle in Haft und Abschiebehaft. Offiziell werden diese häufig als „Suizid“ ausgegeben, doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die Menschen durch die Haftbedingungen systematisch in den Tod getrieben wurden.

Die Recherche zeigt auch die enge Verschränkung von staatlichem Rassismus und dem Grenzregime. In 20 Fällen kamen Menschen auf der unmittelbaren Flucht vor der Polizei ums Leben, häufig um eine Polizeikontrolle zu vermeiden oder einem Abschiebeversuch zu entkommen. 44 Personen starben in Abschiebehaft, und in drei Fällen wurden Betroffene gar während der Abschiebung von der Polizei umgebracht.

Weil die Datenlage sehr schlecht ist, gehen wir davon aus, dass es sehr viele Todesfälle in Gewahrsam gibt, die in unserer Dokumentation noch nicht enthalten sind. Die Recherche wird daher fortgesetzt und jährlich aktualisiert.

Death in Custody fordert:

*Das Töten muss aufhören! Jeder Todesfall ist einer zu viel.

*Say their names! Erinnern wir die Geschichten der Getöteten, damit das staatliche Narrativ nicht das einzige ist, was übrig bleibt. Schluss mit der Kriminalisierung der Opfer tödlicher staatlicher Gewalt!

*Die vielen Todesfälle dürfen nicht länger achselzuckend hingenommen werden! Aufklärung und Rechenschaft jetzt!

 

Die Kampagne „Death in Custody”

Zu den Hintergründen der Kampagne schreibt das Bündnis: „Death in Custody“ formierte sich im September 2019 als Reaktion auf die vielen ungeklärten Todesfälle Schwarzer Menschen und People of Color in Gewahrsam. Schwarze Communities, migrantisch-diasporische Communities und Communities of Color treffen und verunsichern diese Vorfälle tief. Das Ausbleiben einer Aufarbeitung der Todesfälle und Rechenschaft der Täter:innen seitens Ermittlungsbehörden und Staatsanwaltschaft verschlimmern die Gewaltsamkeit der Vorfälle. Im Umfeld der Betroffenen ruft dies Empörung hervor.

Bemühungen nach Aufklärung stoßen bei Polizei und Justiz auf Abwehr. Die Verzerrung der Geschehnisse zum Schutz von Polizeibeamt:innen und Mitarbeiter:innen in Einsperrinstitutionen, die gegebenenfalls in die Vorfälle verwickelt oder gar Täter:innen sind, wirft Fragen auf: Wer zählt in der Gesellschaft? Wessen Leben, wessen Tod sind von Relevanz? Wer hat Zugang zu Recht und Gerechtigkeit? Inwiefern ist Verlass auf Polizei und Justiz? Wie konsequent wird in Institutionen mit diskriminierendem, rassistischem Personal bzw. organisierten Nazis umgegangen?

Seit vielen Jahren verweisen Vertreter:innen von Communities of Color auf den Zusammenhang von Rassismus und institutioneller Gewalt, also darauf, dass Schwarze Menschen und People of Color in ungleichem Maße von institutioneller Gewalt betroffen sind. Racial Profiling, die Verwehrung gesundheitlicher Versorgung in Abschiebehaft oder Gefängnissen, körperliche Übergriffe in Untersuchungshaft oder Psychiatrien sind an der Tagesordnung. Diese Fälle machen auch die Intersektionalität der Betroffenheit sichtbar: Psychiatrieerfahrene, geflüchtete, prekär lebende und andere marginalisierte Gruppen sind besonders gefährdet. Todesfälle in Gewahrsam und deren Nichtaufklärung sind die letzte Eskalationsstufe dieser Gewalt.