„Die kranken Gefangenen sind unsere blutende Wunde”

Wir haben mit Havva Özcan, Ehrenvorsitzende der Gefangenenhilfsorganisation MED TUHAD-FED, über die Situation der kranken Gefangenen in der Türkei gesprochen. Sie sagt, dass die Regierung voller Feindseligkeit und Hass ihnen gegenüber sei.

In der Türkei ist eine Verbesserung der Haftsituation von kranken Gefangenen nicht in Sicht. Trotz attestierter Haftunfähigkeit werden Inhaftierte weiterhin in den Gefängnissen dem sichereren Tod überlassen, statt ihnen eine angemessene ärztliche Versorgung zu ermöglichen. Darauf weist Havva Özcan, die Ehrenvorsitzende der Gefangenenhilfsorganisation MED TUHAD-FED, hin. Im Gespräch mit ANF äußerte sich Özcan zur bereits zuvor prekären Lage der kranken Inhaftierten, die sich durch die Corona-Pandemie drastisch verschlechtert hat.

„Wir können sagen, dass die kranken Gefangenen die unverheilte blutende Wunde der Türkei sind. Einer von ihnen, Vefa Kartal, starb vor kurzem in der Strafvollzugsanstalt Edirne. Zuvor haben wir bereits Sabri Kaya verloren. Obwohl er in Haft drei Herzinfarkte erlitt, wurde er nicht freigelassen. Auch den kranken Gefangenen Mehmet Emin Özcan, der in Amed inhaftiert ist, und Hasan Alkış in Bolu, Ergin Aktaş oder Avni Uçar sowie etlichen Weiteren, deren Namen ich nicht aufgezählt habe, wird eine Haftentlassung verweigert”, sagt Havva Özcan.

Havva Özcan

Die Aktivistin erinnert sich daran, dass zwischen den Jahren 2011 und 2013 einigen kranken Gefangenen in der Türkei aufgrund ihrer schlimmen gesundheitlichen Verfassung ein Straferlass gewährt wurde. „Leider war es aber zu spät. Denn alle, die entlassen wurde, starben kurz danach. Wie bei Sabri Kaya, der früh morgens entlassen wurde und in den späten Abendstunden desselben Tages von uns ging. Trotz unserer Bemühungen wurden und werden diese Menschen nicht freigelassen. Auch wenn sie möglicherweise nicht mehr lange zu leben hätten, könnten sie wenigstens im Kreis der eigenen Familie und Freunde verscheiden. Doch ist der Staat in diesem Thema sehr hasserfüllt. Es zeigt sich wieder, dass der Staat eine harte Politik gegen die Gefangenen fährt, insbesondere gegen solche, die krank sind. Es ist eine feindliche und rachsüchtige Politik.“

Gefängnisse der Türkei sind der Schandfleck des Landes

Havva Özcan unterstreicht zudem, dass das Infektionsrisiko mit dem Coronavirus in den Vollzugsanstalten nach wie vor sehr hoch ist und dennoch keine Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie getroffen werden. Teilweise dreißig bis vierzig Gefangene müssten sich eine Zelle teilen, außerdem seien die Preise für Hygieneartikel drastisch gestiegen. „Vor der Pandemie kostete ein Stück Seife zum Beispiel fünf Lira [umgerechnet etwa 65 Cent], mittlerweile liegt der Preis mit 40 bis 50 Lira beim zehnfachen. Es gibt weder Mund-Nase-Bedeckungen noch Schutzhandschuhe. Wie soll in einem vier Meter langem Raum Abstand gehalten werden?“, fragt Özcan.

Bei einigen Gefangenen, die zu einer erschwerten lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurden, sei der Gesundheitszustand so kritisch, dass sich konstant zwei bis drei Personen bei ihnen aufhalten müssen, fährt Özcan fort. Diese Tatsache verdeutliche, dass die Gefängnisse in der Türkei der „Schandfleck“ des Landes seien. „Die Probleme in den Haftanstalten sind schier endlos. Dort kann sich die Gesundheit von niemanden erholen. Wenn eine Person dort 20 Jahre festgehalten wird, wie soll sie dann bitte gesund sein?“

Regierung ist voller Feindlichkeit und Hass

Anfang April hatte die islamistische Regierungspartei AKP ungeachtet heftiger nationaler und internationaler Kritik zusammen mit ihrem ultranationalistischen Koalitionspartner MHP ein Amnestiegesetz verabschiedet. Rund 100.000 kriminelle Strafgefangene wurden seitdem aus den Haftanstalten entlassen – offiziell wegen der hohen Infektionsgefahr in den überfüllten Gefängnissen. Politische Gefangene werden von der gesetzlichen Regelung jedoch explizit ausgenommen. Havva Özcan erklärt, dass intensive Bemühungen ihrer Organisation, auch die Freilassung der kranken Gefangenen zu erwirken, bisher ohne Ergebnis blieben. „Wir haben einiges getan. Unter anderem Gespräche mit Parteien wie der AKP, aber auch CHP und HDP geführt. Etwas bewirken konnten wir bisher nicht. Deswegen folgt ein Verlust innerhalb der kranken Gefangenen dem nächsten. Wir sind aber entschlossen, unseren Kampf für sie fortzusetzen.“

Özcan hat Schwierigkeiten, eine Definition für den Ansatz der Regierung zu finden, die kranke Gefangene dem sicheren Tod überlässt. „Sie ist voller Feindlichkeit und Hass. Egal ob drinnen oder draußen, tut sie alles in ihrer Macht Liegende, um gegen die Kurden vorzugehen. Das hält uns aber nicht davon ab, unseren Widerstand aufrechtzuerhalten. Solange wir kämpfen, wachsen wir an und werden stärker.“

MED TUHAD-FED

Die Organisation MED TUHAD-FED mit Sitz in der nordkurdischen Metropole Amed (türk. Diyarbakir) setzt sich für politische und kranke Gefangene und ihre Familien ein. Da direkte Kontakte mit den Gefangenen nicht möglich sind, läuft die Unterstützung in den meisten Fällen indirekt über die Familienangehörigen, welche die Gefangenen besuchen und deren Anliegen an den Verband weiterleiten. MED TUHAD-FED berät die Angehörigen der Gefangenen und unterstützt sie teilweise auch finanziell. Sie organisiert beispielsweise Autos oder Fahrkarten für Gefängnisbesuche, vernetzt wohlhabende und arme Familien, die sich gegenseitig unterstützen können und bereitet zusammen mit den Angehörigen Treffen mit der Staatsanwaltschaft und weiteren Behörden vor. Außerdem führt MED TUHAD-FED Projekte für Kinder von Gefangenen durch und Resozialisierungsprogramme für entlassene Häftlinge. Wie auch andere Menschenrechtsorganisationen wurden gegen MED TUHAD-FED und Mitarbeitende zahlreiche Verfahren eröffnet und die Organisation mehrmals verboten, zuletzt per Notstandsdekret nach dem vermeintlichen Putschversuch vom Sommer 2016. Havva Özcan saß zuletzt zwischen Oktober 2017 und Januar 2018 in Untersuchungshaft. Gegen die langjährige Aktivistin wurde im Zusammenhang mit einer Antikriegsdemonstration 2016 in Ankara ermittelt.