Menschenrechte in der EU abgeschafft
Acht Jahre Diskussion ging der gestrigen Entscheidung des Europaparlaments zur „Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS)“ voraus. Das Recht auf Asyl, eine der Errungenschaften, für die sich Deutschland als „Lehre aus dem Nationalsozialismus“ rühmte, wurde in den letzten Jahrzehnten Schritt für Schritt immer weiter ausgehöhlt.
Mit der Entscheidung vom Mittwoch erhielt dieses individuelle Grundrecht einen weiteren schweren Schlag. Die fluchtpolitische Sprecherin von DIE LINKE. und Bundestagsabgeordnete Clara Anne-Bünger spricht sogar davon, dass „das individuelle Recht auf Asyl Geschichte“ sei. Damit untertreibt sie nicht, denn an den Grenzen der EU soll nun bei den Asylsuchenden nach Herkunft entschieden werden, ob sie in der EU einen Antrag stellen können oder ob sie in ein exterritoriales Lager gepfercht, „Schnellverfahren“ unterzogen und dann abgeschoben werden sollen. Schutzbedürftigkeit spielt dabei keine Rolle, ob Männer, Frauen oder Kinder, sie alle sollen in diese Haftlager an den Außengrenzen geschickt werden. Ausgenommen sind bisher nur unbegleitete Minderjährige. Während das Asylrecht per definitionem ein individuelles ist, also der Fall individuell geprüft werden muss, soll nun gelten, das Menschen aus Ländern mit einer Anerkennungsquote von weniger als 20 Prozent in diesen Lagern interniert und anschließend innerhalb von drei Monaten abgeschoben werden sollen.
Ein Schlag ins Gesicht der Verfolgten dieser Welt
CDU, SPD und Grüne feiern den Schlag gegen die Menschlichkeit und gegen ein elementares Grundrecht. Außenministerin Baerbock bezeichnete die Entscheidung als „Beweis“ für die „Handlungsfähigkeit der EU in schwierigen Zeiten“. Die Regelung sei auch „eine gute Nachricht für Kommunen in Deutschland“. Sicher ist es keine gute Nachricht für Schutzsuchende, wie zum Beispiel mit dem Tod bedrohte LGBTI+-Personen aus dem „sicheren Herkunftsstaat“ Ghana, Kurd:innen aus der Türkei, Berber:innen aus Algerien oder Saharauis aus den besetzten marokkanischen Gebieten, die um Leib und Leben aus angeblich „sicheren Ländern“ fliehen. Die Beispiele zeigen, dass sich ein Grundrecht nicht an Quantifizierbarkeit der Anerkennungsquoten messen lässt.
Was bedeutet die Reform konkret?
Menschen, die in die EU fliehen, werden einem Screening-Verfahren unterworfen und gelten als nicht eingereist. Vor allem Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten bekommen dann Grenzverfahren unter Haftbedingungen, diese sind auch für Familien mit Kindern verpflichtend. Die Kriterien für „sichere Herkunftsstaaten“ wurden massiv gesenkt. So wird nun allein die nichtbereinigte Schutzquote von unter 20 Prozent als Kriterium genommen. Nichtbereinigt bedeutet, dass formale Ablehnungen aufgrund Nichtbetreibens, fehlender Unterlagen und ähnlichem die Schutzquote weiter drücken, ohne einen Anhaltspunkt über „Sicherheit“ des Herkunftslandes zu bieten. Die Türkei liegt bei einer europaweiten Schutzquote von 18 Prozent genau in diesem Raster. ProAsyl bezeichet die Zustimmung des Europaparlaments zu dem Beschluss als „historischen Tiefpunkt für den Flüchtlingsschutz in Europa“. Weiter heißt es: „ Europa schottet sich immer weiter ab: Zu den schon bestehenden Zäunen, Mauern, Überwachungstechniken und Pushbacks kommen nun noch mehr Inhaftierung und Isolierung schutzsuchender Menschen an den Außengrenzen und neue menschenrechtswidrige Deals mit autokratischen Regierungen.“
Schnellverfahren an den Außengrenzen bedrohen insbesondere auch Kurd:innen
Ab 2026 sollen die Regelungen in Kraft treten. Insbesondere die Türkei als Fluchtland ist betroffen. Aber nicht nur das, die Inhaftierungen an der Grenze gelten auch für Personen, die aus Seenot gerettet und an den Grenzen aufgegriffen werden oder solchen, denen vorgeworfen wird, „eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu sein oder den Behörden zum Beispiel falsche Identitätsdokumente vorgelegt zu haben“. Davon werden auch politisch aktive Kurd:innen bedroht sein. Dabei gibt es auch keine Ausnahmen für Familien mit Kindern, nur eine schwammige Priorisierungsregelung. Anwält:innen befürchten, dass unter den Bedingungen dieser Schnellverfahren keinerlei Unterstützung möglich sei.
Türkei angeblich auch „sicherer Drittstaat“
Die Türkei gilt mit einer Anerkennungsquote von europaweit weniger als 20 Prozent nicht nur als „sicherer Herkunftstaat“, sondern ist bereits jetzt als „sicherer Drittstaat“ von Griechenland anerkannt worden. Das bedeutet, dass Menschen, die über die Türkei nach Europa fliehen, also aus dem gesamten Nahen und Mittleren Osten, bereits per se ins Grenzverfahren geraten, obwohl sie aus Ländern mit hoher Anerkennungsquote wie Syrien oder Afghanistan kommen. Die „Drittstaatsregelung“ soll nun mit dem Gesamteuropäischen Asylsystem (GEAS) formalisiert werden und das, obwohl es in der Türkei nicht einmal das Recht auf Asyl für Nichteuropäer:innen gibt. Die Regelung ist regelrecht auf die Türkei zugeschnitten, indem das Kriterium für einen sicheren Drittstaat auf die Möglichkeit der Erteilung eines „effektiven Schutzes“ und nicht von Asyl heruntergeschraubt wurde. Die Türkei führt systematisch Kettenabschiebungen nach Afghanistan durch und setzt Geflüchtete als militärische Schutzschilde und Siedler in Syrien ein. Ein sicherer Ort ist mit Sicherheit etwas anderes.
„Ressourcen in Menschenrechte, statt in Misshandlung von Menschen“
Dies sind nur einige der dramatischen Rechtsbrüche, die durch die GEAS-Reform bevorstehen. Die fluchtpolitische Sprecherin von DIE LINKE, Clara-Anne Bünger, erklärte: „Wir könnten Ressourcen in die Rettung von Menschen investieren, statt in die Misshandlung von Menschen. Wir hätten zeigen können, dass wir das mit den Menschenrechten ernst meinen, statt sie abzuschaffen. Doch nichts davon ist passiert.“ Das GEAS beinhaltet noch viele weiter hochproblematische Regelungen. Für den Hintergrund ist die Website von Pro Asyl zu empfehlen.
Titelbild: Protest am World Refugee Day gegen die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) in Nürnberg im Juni 2023