Nach jahrelangen Diskussionen und einer nächtelangen Schlussverhandlung haben die Abgeordneten des Europäischen Parlaments und die Vertreter:innen der Mitgliedstaaten am Mittwochmorgen eine Einigung über die heikle Reform des europäischen Migrationssystems erzielt. „Es wurde eine politische Einigung über die fünf Dossiers des neuen Migrations- und Asylpakts erzielt", teilte die spanische EU-Ratspräsidentschaft zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) auf X mit. Die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, sprach von einem „historischen Moment". Bundesinnenministerin Nancy Faeser bezeichnete die Einigung als Schlüssel für eine Steuerung und Ordnung der Migration. So könnten humanitäre Standards geschützt und irreguläre Migration begrenzt werden, erklärte die SPD-Politikerin.
Die Reform sieht im Wesentlichen schärfere Asylregeln, Asylverfahren an den Außengrenzen sowie einen obligatorischen Solidaritätsmechanismus zwischen den Mitgliedsländern vor, um Hauptankunftsländer wie Italien oder Griechenland zu entlasten. Die politische Einigung muss noch vom Rat der EU (Mitgliedstaaten) und dem Europäischen Parlament formell gebilligt werden. Ziel ist es, alle Texte vor den Europawahlen im Juni 2024 zu verabschieden - zu einer Zeit, in der das Thema Migration die politischen Debatten in vielen europäischen Ländern beherrscht und rechtsextreme und populistische Parteien auf dem Vormarsch sind.
Kritik von Menschenrechtsorganisationen
Die Reform wird von Menschenrechtsorganisationen kritisiert. Rund 50 Nichtregierungsorganisationen, darunter Amnesty International, Oxfam, Caritas und Save the Children, warnten am Montag in einem offenen Brief an die Verhandlungsführenden vor der Gefahr, dass das Migrationsabkommen zu einem „schlecht durchdachten, kostspieligen und drakonischen System" führen werde. Der europäische Caritas-Verband erklärte, die Reform werde die Asylproblematik in der EU nicht lösen, aber den Zugang zu Asyl und die Rechte der Schutzsuchenden einschränken.
Bünger: Keine Reform wäre besser gewesen als diese GEAS-Reform
Die Bundestagsabgeordnete Clara Bünger (DIE LINKE) erklärte nach Abschluss der Verhandlungen über die GEAS-Reform: „Grenzverfahren unter Haftbedingungen, Deals mit Autokraten, Investitionen in Abschottung statt echter Verantwortungsteilung: Die in Brüssel beschlossene Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist der massivste Angriff auf das individuelle Recht auf Asyl, den es in der EU je gegeben hat. Diese Beschlüsse werden kein einziges Problem lösen, aber das Leid, die Entrechtung und das massenhafte Sterben von Schutzsuchenden an den EU-Außengrenzen verschärfen. Keine Reform wäre besser gewesen als diese Reform."
Die Behauptung von Bundesinnenministerin Nancy Faeser, die Einigung könne zum Schutz humanitärer Standards beitragen, bezeichnete Clara Bünger als „eine dreiste Verdrehung der Tatsachen. Die GEAS-Reform zielt im Gegenteil darauf ab, humanitäre Standards zu senken und die Rechte von Asylsuchenden auszuhöhlen. Sie ist Ausdruck des gesellschaftlichen Rechtsrucks, den die Bundesregierung mit ihrer asylfeindlichen Rhetorik und Politik weiter befeuert. Auch die Grünen sind längst eingeknickt und werden künftig mit der Schuld leben müssen, das Recht auf Asyl in der EU faktisch abgeschafft zu haben. Die Linke wird auch in Zukunft an der Seite von Geflüchteten für deren Rechte kämpfen und sichtbar machen, dass es zu dem nun beschlossenen Katalog der Entrechtung Alternativen gibt: Eine echte Verantwortungsteilung zwischen den EU-Staaten und ein Asylsystem, das die Menschenrechte und Bedarfe der Schutzsuchenden in den Mittelpunkt stellt."
Ernst: Das individuelle Recht auf Asyl ist de facto tot
Die EU-Abgeordnete Cornelia Ernst (DIE LINKE) bewertete die Einigung als „die massivste Verschärfung des Europäischen Asyl- und Migrationsrecht seit Gründung der EU" und sagte, das individuelle Recht auf Asyl sei de facto tot. „Künftig werden Asylsuchende an der Grenze inhaftiert, auch bei Familien mit Kindern aller Altersstufen soll das möglich sein", so die Linkspolitikerin.