Im Europaparlament in Brüssel hat am 6. und 7. Dezember die 18. Internationale Konferenz „Die Europäische Union, die Türkei, der Nahe Osten und die Kurd:innen“ der EU Turkey Civic Commission (EUTCC) stattgefunden. Einer der Referenten in der Sitzung „Hundert Jahre Vertrag von Lausanne: Anspruch und Wirklichkeit eines ,Friedens'“ am Donnerstagvormittag war der kurdische Journalist Amed Dicle. Wir dokumentieren seine Rede in deutscher Übersetzung:
Verleugnung eines Volkes mit 40 Millionen Angehörigen
Das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 und die fortgesetzte Missachtung der Kurd:innen in den darauf folgenden internationalen Verträgen haben zur Aufteilung Kurdistans in vier Teile in vier Ländern geführt und bilden seit mehr als einem Jahrhundert die Grundlage für Massaker und Ungerechtigkeiten gegen Kurd:innen in der Türkei, im Irak, im Iran und in Syrien.
Mitte des 19. Jahrhunderts entstand das nationalstaatliche Regime, das eine katastrophale Situation für alle Völker außerhalb der hegemonialen Nationen im äußerst heterogenen Nahen Osten schuf. Die Kurd:innen wurden mit ihrem aufgeteilten Land aus dem Prozess der Nationenbildung herausgedrängt und von diesen vier Staaten zum „Feind" gemacht. Ihre Existenz wurde geleugnet, die kurdische Sprache verboten und ihre Spuren in der Geschichte verwischt, um zu verhindern, dass sich ein nationales Bewusstsein herausbildet.
Gegen alle Widerstände haben sich die Kurd:innen durchgesetzt. Doch ihre Bemühungen um Selbstverwirklichung wurden mit militärischer und politischer Repression beantwortet. Diese Konflikte mit den vier Staaten beruhen auf dem Widerstand der Kurd:innen gegen die koloniale Übermacht. Die Kurd:innen sind mit 40 Millionen Angehörigen als größtes Volk ohne Staat nach langem Kampf zu einem politischen Akteur geworden.
EUTCC-Konferenz im Europaparlament in Brüssel
In diesem Sinne ist die kurdische Frage das Problem einer zerbrochenen Heimat, der Verleugnung eines Volkes, der tiefen Spaltung seiner gesellschaftlichen Realität, der Behinderung seines politischen Willens, der erzwungenen Unterwerfung unter die Verleugnungs- und Vernichtungstaktiken der Staaten, der Aufgabe ihrer Identität, die zu einem Vorläufer für die Befriedigung wirtschaftlicher Bedürfnisse gemacht wird, des Entzugs der Möglichkeit und der rechtlichen Grundlage, eine kulturelle und ideologische Einheit auf der Grundlage seiner eigenen Identität zu werden, des Entzugs zeitgemäßer Mittel und Methoden der Bildung, einer ganzheitlichen Anwendung der Identitätsverleugnung und der Unfähigkeit, ein freies Leben zu führen.
Die kurdische Frage ist mit anderen Worten keine nationale Frage, sondern eine Frage der Entfernung aus der Nation. Seit dem Beginn des bewaffneten Kampfes im Jahr 1984 sind fast 40 Jahre vergangen, in denen alle türkischen Regierungen die Angelegenheit durch die Brille einer sicherheitsorientierten Politik betrachtet haben. Ihre Legitimation ergab sich aus einer Kombination von „Terrorismus und Überleben" im Rahmen eines Krieges niedriger Intensität, der zum größten Hindernis auf dem Weg zur Entmilitarisierung und zum Funktionieren demokratischer Mechanismen geworden ist. Weder der Staat noch die Regierungen haben jemals die Realität des Krieges anerkannt, obwohl alle Institutionen und der soziale Raum in Übereinstimmung mit ihm gestaltet wurden.
Der türkische Staat hat die Unlösbarkeit in seinem Grundgesetz verankert und nicht den Wunsch, die Angelegenheit zu lösen. Ein kleines Beispiel dafür ist die jährliche Haushaltsanhörung im Parlament. Ist es nicht interessant, dass der größte Teil des Haushalts für Sicherheit und Krieg ausgegeben wird? Ein Blick auf das nächste Jahr zeigt, dass sich der Verteidigungs- und Sicherheitshaushalt 2024 auf mehr als 1,1 Billionen Lira belaufen wird - etwa 40 Milliarden Dollar in heutigen Wechselkursen. Für das Bildungs- und Gesundheitswesen werden keine solchen Mittel bereitgestellt. Die Unlösbarkeit der kurdischen Frage und die unaufhaltsame Kriegsmaschinerie haben allein seit dem Jahr 2000 rund 800 Milliarden Dollar verschlungen.
Syrien: Welchen Weg haben die Kurd:innen im Arabischen Frühling eingeschlagen?
Als der Bürgerkrieg 2011 ausbrach, organisierten sich die Kurd:innen untereinander und mit anderen Völkern, mit denen sie in Syrien zusammenlebten, um sich gegen die radikalen Islamisten zu wehren, die das Land übernommen hatten. Im Norden des Landes gelang es ihnen, eine sichere und lebenswerte Region aufzubauen und für fortschrittliche Werte gegen den Islamischen Staat zu kämpfen, der die ganze Welt bedrohte. Mehr als 11.000 junge kurdische Männer und Frauen verloren in diesem Prozess ihr Leben, während das kurdische Volk zu einem entscheidenden Akteur auf der internationalen Bühne wurde und das Jahrhundert seiner Missachtung sichtbar machte. Die kurdische Frage wurde global, über die Grenzen der Türkei, des Irak, des Iran und Syriens hinaus. Der Gesellschaftsvertrag im Norden Syriens, den die Kurd:innen Rojava nennen, ist in der Geschichte des Nahen Ostens beispiellos. Es gibt praktisch keine bessere Verfassung zugunsten der Völker und der Demokratie.
Was bedeutet das kurdische Experiment der Basisdemokratie und Koexistenz für die EU?
Die Kurd:innen haben sich die radikale Demokratie und den Pluralismus zu eigen gemacht, die auf dem Zusammenleben aller Völker in ihrer ganzen Vielfalt beruhen. Diese ideologische Einstellung ist für die Zukunft Syriens und des Nahen Ostens von großer Bedeutung. Die Feindseligkeit zwischen den Völkern, die durch das Konzept des Nationalstaats gesät wurde, weicht einer Koexistenz.
Auf dem europäischen Kontinent, der jahrhundertelang von Kriegen heimgesucht wurde, hat sich mit der Europäischen Union ein anderes Projekt für Koexistenz und Frieden entwickelt. Die universellen Prinzipien, die diese Union ausmachen, haben auch die kurdischen Vorschläge zur Lösung der Probleme im Nahen Osten inspiriert. Von den EU-Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament wird nun erwartet, dass sie das Projekt der Kurd:innen im Nahen Osten als Konfliktlösung unterstützen, auch wenn die derzeitigen politischen Kalküle und Handelsbeziehungen dem im Wege stehen. Das ist die Mauer, gegen die die Kurd:innen stoßen, wenn sie sich progressiven und demokratischen Werten und der westlichen Zivilisation im Allgemeinen zuwenden.
Die Kurd:innen stehen in Europa immer nur dann auf der Tagesordnung, wenn es um Rechtsverletzungen oder Folter geht, aber die Kurd:innen wollen strukturelle Lösungen für diese Probleme und keine nachträglichen gerichtlichen Entschädigungen. Für die Kurd:innen gibt es also zwei Europas. Das eine ist friedlich und erkennt grundlegende Prinzipien und internationale Werte an, während das andere dazu neigt, alle seine Prinzipien zu verletzen, um aktuelle Probleme schnell zu lösen - wie man an der Flüchtlingspolitik und den Migrationswellen sieht.
Die europäischen Länder haben sich für eine Partnerschaft mit Nicht-EU-Staaten entschieden, um den Zustrom von Flüchtlingen zu stoppen, und ignorieren dabei ihre eigenen Werte. Sie schweigen auch und weigern sich, eine politische Haltung einzunehmen, wenn Länder und ihre Führer Europa offen bedrohen.
Zugeständnisse an Erdoğan und die Kopenhagener Kriterien
Das Ausmaß der Zugeständnisse, die Recep Tayyip Erdoğan von Europa durch die Erpressung mit Flüchtlingen erlangt hat, ist nicht vollständig bekannt, aber der türkische Präsident fühlt sich offensichtlich wohl genug, um zu sagen, dass er die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht anerkennt. Die EU-Mitgliedstaaten, die ihre Grundsätze für kurzfristige politische Vorteile aufgeben, haben angesichts dieser Ablehnung ihrer Entscheidungen und Urteile ihre Sanktionskraft verloren, was die Probleme mit der Demokratie in der Türkei gewissermaßen noch verschärft.
Wir haben noch keine Bemühungen oder Initiativen der europäischen Länder zur Lösung der kurdischen Frage in der Türkei gesehen. Sie wissen, dass die Türkei unter der Führung von Erdoğan die wahre Bedrohung für den Kontinent darstellt, aber die Angst vor Flüchtlingen hat allen Regierungen die Hände gebunden. Das Erstarken rechter Politik in der EU ist auch ein Ergebnis dieser angstbasierten Untätigkeit. Europa erlebt eine Achsenverschiebung, weg vom grundlegendsten Wert der Demokratie. In Dänemark, Deutschland, Schweden, Ungarn, Italien und vielen anderen Ländern ist ein Aufschwung der extremen Rechten zu beobachten. Die Institutionalisierung des offenen Faschismus ist ein ernstes Zeichen.
Die Migration aus Nordsyrien mit einer kurdischen Bevölkerungsmehrheit nach Europa ist relativ gering, während türkische Staatsangehörige aufgrund des politischen Klimas und der scheiternden Wirtschaft in wachsender Zahl die Türkei verlassen. Die politische Stabilität in Rojava ist der Grund für das Ausbleiben einer Migrationswelle, aber Erdoğans instabile Türkei treibt Tausende nach Europa. Dies allein macht eine Überprüfung der europäischen Zugeständnisse und Unterstützung notwendig.
Die EU und die Lösung der kurdischen Frage
Die kurdische Frage in der Türkei ist nicht nur ein politisches Problem, sondern betrifft auch die Wirtschaft. Und wenn die EU eine Insel des Friedens bleiben soll, muss diese Frage gelöst werden. Das könnte auch eine Friedensbewegung für die gesamte Region auslösen. Die Forderungen des kurdischen Anführers Abdullah Öcalan nach einer politischen Lösung in Richtung Frieden sind nach wie vor aktuell. Das EU-weite Verbot seiner Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) wurde aufgrund eines politischen Balanceakts ausgesprochen und steht einer Anerkennung dieser friedlichen Forderungen im Weg.
Öcalan ist ein zentraler Akteur, der Projekte für eine politische statt einer militärischen Lösung entwickelt und die Macht hat, solche Projekte umzusetzen. Er ist der Hauptverhandlungsführer der PKK und hat Dutzende von Fahrplänen und Projekten für eine Lösung vorgelegt. Seit 1993 hat er aktiv Protokolle für einen Waffenstillstand, Verhandlungen und eine Lösung vorgeschlagen. Seit mehr als zweieinhalb Jahren befindet er sich in absoluter Isolation im Gefängnis auf der Insel Imrali, ohne Kontakt zur Außenwelt, einschließlich seiner Familie und seiner Anwältinnen und Anwälte. Dieser Zustand der Isolationshaft ist absolut beispiellos. Die europäischen Institutionen schweigen aufgrund ihrer Beziehungen zur Türkei zu dieser äußerst wichtigen Angelegenheit, aber sie könnten stattdessen zum Frieden beitragen, wenn sie gegen diese Isolation Stellung beziehen würden.
Europa muss in grenzüberschreitenden Konflikten eine friedliche Seite einnehmen und als Vermittler für Friedensgespräche auftreten, um seine Grundprinzipien gegen die extreme Rechte zu wahren und den gesellschaftlichen Frieden zu erhalten. Das ist eine Initiative, die von der Union erwartet wird. Es ist klar, dass Europa seine Probleme nicht innerhalb der Grenzen des Kontinents lösen kann. Josep Borrell, der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, verwendet die Metapher eines Rosengartens und eines wilden Waldes für die EU und Nicht-EU-Regionen. In dieser Metapher schützen Mauern die Union eindeutig nicht, und der Frieden in Europa bleibt mit den Entwicklungen im Nahen Osten und in Kleinasien verflochten. Jeder Versuch, den Frieden zu sichern, wird daher auch den europäischen Frieden sichern. Insofern ist zu hoffen, dass die Friedensbemühungen der EU-Mitgliedstaaten von den Konfliktparteien beachtet werden.
Nahezu alle Konflikt- und Friedensprozesse in der Welt verlaufen nach demselben Muster wie der, den wir heute erleben. Von Guatemala bis Irland, von Spanien bis Kolumbien - viele Prozesse weisen die gleichen Merkmale auf, abgesehen von einigen spezifischen Bedingungen. Die Erfahrungen in Asien scheinen mehr Gemeinsamkeiten mit der kurdischen Frage zu haben als die in Europa oder Amerika. Europa ist jedoch nach wie vor der erfahrenere Akteur in diesen Fragen und sollte daher seine Rolle und seinen Auftrag wahrnehmen. Noch ist es nicht zu spät.
Ein weiterer Teil der Gleichung sind die kurdischen politischen Parteien in der Türkei, die für Verhandlungen geeignet sind und die Möglichkeit fordern, eine eigene Rolle zu spielen. Das türkische Parlament ist die wichtigste Instanz in diesem Prozess, um die Rolle zu spielen, die ihm wiederum zukommt.