Civaka Azad: Deutschlands Problem mit kurdischen Geflüchteten

Laut Civaka Azad ist Deutschland kein sicheres Fluchtland für Kurd:innen. In Behörden finde ein kollektives Versagen im Hinblick auf den Schutz ihrer elementaren Grundrechte statt. Es bedürfe dringend eines Umdenkens in der Politik.

In seinem neuen Newsletter berichtet Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit über die Situation von kurdischen Geflüchteten in Deutschland und den Umgang von Behörden und Politik mit ihnen – und konstatiert: Deutschland ist kein sicheres Fluchtland für Kurd:innen. Die Anerkennungsquote für kurdische Geflüchtete ist erschreckend niedrig, obwohl ihnen in ihren Herkunftsstaaten Repression, Inhaftierung und Verfolgung drohen. Hinzu kommt, dass Einrichtungen für Geflüchtete in Deutschland den Kurd:innen nicht genügend Schutz gewähren, wie zuletzt mehrere islamistisch und rassistisch motivierte Übergriffe im Berliner Ankunftszentrum Tegel verdeutlichten.  „Die deutschen Behörden versagen kollektiv im Hinblick auf den Schutz der elementaren Grundrechte der Kurd:innen. Es bedarf dringend eines Umdenkens in der deutschen Politik“, fordert Civaka Azad:

Die Türkei liegt inzwischen auf Platz zwei der wichtigsten Herkunftsstaaten für Asylbewerber:innen in Deutschland.  Von Januar bis November 2023 haben 55.354 Menschen aus der Türkei hier einen Antrag auf Asyl gestellt. Damit liegt die Türkei knapp vor Afghanistan (48.172 Anträge) und deutlich vor dem Irak (10.376) und Iran (8.891 Anträge). Nur bei Menschen aus Syrien ist die Zahl der Asylbewerber:innen noch deutlich höher (95.354 Anträge).

Die Mehrheit der Geflüchteten aus der Türkei ist kurdischer Herkunft. Bis Oktober dieses Jahres waren es rund 85 Prozent. Doch laut Pro Asyl ist die Anerkennungsquote für Kurd:innen aus der Türkei besonders niedrig. Im Schnitt lehnt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zwei von drei Anträgen von Kurd:innen ab. Dabei wird keine andere gesellschaftliche Gruppe in der Türkei so stark verfolgt und unterdrückt wie die Kurd:innen. Wenn wir die kurdischen Geflüchteten aus Iran, dem Irak und Syrien hinzuzählen, werden wir schnell feststellen, dass die Kurd:innen einen großen Anteil der schutzbedürftigen Geflüchteten in Deutschland ausmachen. Doch die deutschen Behörden und die deutsche Politik scheinen auf diese Tatsache nicht vorbereitet zu sein.

Die Ausschreitungen in Tegel

Ein erschreckendes Beispiel sind die Ereignisse im Berliner „Ankunftszentrum“ Tegel Ende November. Hier haben Sympathisanten des IS Kurd:innen unter Schlachtrufen angegriffen. „Wir schneiden allen Kurden die Köpfe ab“, soll einer von ihnen gerufen haben.  Eine schwangere Kurdin verlor durch den Schock ihr Kind. Auch der Sicherheitsdienst des Camps soll in die Angriffe verwickelt gewesen sein und Kurd:innen bedroht haben. Obwohl die Opfer des Angriffs mittlerweile in einem anderen Teil der Einrichtung untergebracht wurden, sind die Bedingungen dort nach Angaben der kurdischen Geflüchteten katastrophal, da Heizungen zeitweise ausfielen und Duschen aufgrund eines Rohrbruchs nicht funktionierten. Als schlimmer als die schwierigen Bedingungen im Ankunftszentrum Tegel empfinden die Bewohner:innen allerdings die andauernde Bedrohungslage durch Islamisten und den fehlenden Schutz durch die Leitung des größten Berliner Flüchtlingslagers.

Der Fall Hogir Alay

Ein weiterer erschreckender Fall eines kurdischen Geflüchteten aus jüngster Zeit ist der Tod von Hogir Alay. Sein verwester Leichnam wurde am 4. November hinter der Turnhalle des Flüchtlingslagers im rheinland-pfälzischen Kusel erhängt aufgefunden. Für die Erstaufnahmeeinrichtung ist der Fall mit einem knappen Vermerk – Selbstmord – erledigt. Doch die Verantwortlichen scheinen sich nur der Schuld entziehen zu wollen.
Alay war am 13. Februar 2023 aus politischen Gründen aus der Türkei nach Deutschland geflohen. Er wurde in der „Aufnahmeeinrichtung für Asylbegehrende“ in der Nähe von Kaiserslautern untergebracht. Dort klagte er immer wieder über psychische Belastungen durch ständige Zimmerwechsel sowie über Schikanen und Übergriffe durch das Sicherheitspersonal. Auch Übersetzer:innen sollen sich geweigert haben, seine Klagen an die Einrichtungsleitung weiterzuleiten, weil er scheinbar dem Ruf der Einrichtung schaden würde. Am 11. Oktober war das Telefon von Hogir Alay nicht mehr erreichbar. Sein in Österreich lebender Bruder verständigte daraufhin die Polizei, doch Hogir blieb verschwunden. Es ist zu bezweifeln, dass auf dem Lagergelände aktiv nach ihm gesucht wurde.

Die Bundestagsabgeordnete Clara Anne Bünger (Die Linke) fasst den Fall wie folgt zusammen: „Was am Tod von Hogir A. besonders erschüttert, ist die organisierte Verantwortungslosigkeit, die darin zum Ausdruck kommt. Als er vom Wachdienst schikaniert wurde, wollte niemand etwas davon hören. Als er verschwunden war, interessierte es niemanden“. Sie fordert ebenso wie die Initiative Hogir Alay eine lückenlose Aufklärung der Todesumstände.

In der vergangenen Woche wurde der Tod eines weiteren kurdischen Geflüchteten in Deutschland bekannt. Der 21-jährige Faruk Örnek aus der nordkurdischen Stadt Şirnex (Şırnak) soll sich in der Nähe eines Flüchtlingslagers im baden-württembergischen Balingen das Leben genommen haben. Sowohl der Tod von Hogir Alay als auch der von Faruk Örnek sind nicht das Ergebnis einer persönlichen Tragödie. Sie sind die Folge eines Systems struktureller Vernachlässigung und Repression, dem kurdische Schutzsuchende in Deutschland ausgesetzt sind.

Die Abschiebung von Ezid:innen

Wenn es um kurdische Schutzsuchende in Deutschland geht, bleibt es aber nicht bloß bei struktureller Vernachlässigung und Repression. Immer wieder schieben die deutschen Behörden auch Kurd:innen ab, selbst wenn ihnen in den Herkunftsländern Verfolgung und Haft drohen. Kurd:innen, die aufgrund ihrer politischen Aktivitäten aus der Türkei flüchten mussten und diese in Deutschland fortsetzen wollen, geraten schnell ins Visier deutscher Sicherheitsbehörden. Verfolgung, Repression und oft auch Abschiebung sind nicht selten die Folge. Ein Glücksfall ist da noch die im letzten Moment verhinderte Abschiebung von Muhiddin Fidan aus Nordhessen, der sich in einem kurdischen Verein in Kassel engagierte. Andere Kurd:innen wurden längst durch die deutschen Abschiebebehörden in die Hände des Erdogan-Regimes übergeben.

Besonders perfide ist die Abschiebepraxis der Bundesregierung gegenüber Angehörigen der ezidischen Religionsgemeinschaft.  Denn obwohl der Bundestag die Verfolgung der Ezid:innen im nordirakischen Şengal als Völkermord anerkannt hat und die Lage im Irak nach wie vor sehr unsicher ist, kommt es vermehrt zu Abschiebungen von Ezid:innen, darunter auch Familien.

Die Abschiebung von geflüchteten Ezid:innen in den Irak bedeutet für die Betroffenen, in die Arme ihrer Peiniger zurückgeschoben zu werden. Ezid:innen, die den IS-Genozid von 2014 überlebt haben und nach Deutschland geflohen sind, werden durch Abschiebungen akut und existenziell in ihren Lebensgrundlagen bedroht. Auch wenn der IS heute territorial als besiegt gilt, ist allgemein bekannt, dass die Schläferzellen der Terrorgruppe und die weiterhin präsente Ideologie der Islamisten weiterhin eine große Gefahr für die kurdisch-ezidische Gemeinschaft darstellen, die in ihrer langen Geschichte bereits 74 Völkermorde erlitten hat. Das Recht auf Schutz und Sicherheit vor Terror und Krieg ist ein grundlegendes Menschenrecht, das den Ezid:innen nun verwehrt werden soll. Erst recht vor dem Hintergrund des aktuellen Anstiegs islamistischer Gewalt ist die Abschiebung von Ezid:innen in den Irak inakzeptabel und eine tödliche Bedrohung.

Der Verein Pro Asyl fordert vor diesem Hintergrund die Bundesländer und das Bundesinnenministerium auf, einen bundesweiten Abschiebestopp für Ezidinnen und Eziden zu erlassen und ihnen aus völkerrechtlichen und humanitären Gründen ein Bleiberecht zu gewähren.

Kein Schutz für Kurd:innen in Deutschland

Die türkische Regierung gilt nach wie vor als wichtiger Partner der Bundesregierung und der EU in der sogenannten Flüchtlingskrise. Dabei ist die Türkei selbst seit Jahren kein sicheres Land mehr für Oppositionelle und insbesondere für Kurd:innen. Der Anstieg der Asylanträge von Menschen aus der Türkei in Deutschland belegt dies. Doch auch Deutschland scheint kein sicheres Fluchtland für Kurd:innen darzustellen. Die Anerkennungsquote für kurdische Geflüchtete ist erschreckend niedrig, obwohl ihnen in der Türkei Inhaftierung und Verfolgung drohen. Hinzu kommt, dass die Einrichtungen für Geflüchtete in Deutschland den Kurd:innen nicht genügend Schutz gewähren. Sie werden von Islamisten ebenso bedroht wie durch den antikurdischen Rassismus, der in türkischen Einrichtungen, Vereinen und Moscheeverbänden geschürt wird. Das weitverzweigte Agentennetz des türkischen Geheimdienstes in Deutschland tut sein Übriges. Hinzu kommt die Verfolgung und Kriminalisierung politisch aktiver Kurd:innen durch deutsche Sicherheitsbehörden  aufgrund des antidemokratischen PKK-Betätigungsverbots.

Die deutschen Behörden versagen kollektiv im Hinblick auf den Schutz der elementaren Grundrechte der Kurd:innen. Es bedarf dringend eines Umdenkens in der deutschen Politik, sowohl im Zusammenhang mit der deutsch-türkischen Partnerschaft als auch im Umgang mit der kurdischstämmigen Bevölkerung in Deutschland, unabhängig davon, ob sie bereits seit Jahrzehnten in Deutschland lebt oder erst in jüngster Zeit nach Deutschland flüchten musste.


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Titelbild: Medienkollektiv Links Unten Göttingen