AI: Schwere Menschenverletzungen an Schutzsuchenden in Libyen

Amnesty International hat einen neuen Bericht zur Situation von Geflüchteten in Libyen herausgebracht. In den dortigen Haftzentren für Migrant:innen herrschen demnach systematische Folter, sexualisierte Gewalt und Zwangsarbeit.

Das Bürgerkriegsland Libyen ist einer der „Partnerstaaten“ der EU im Kampf gegen schutzsuchende Menschen auf dem Weg nach Europa. Insbesondere Deutschland, Italien und Malta forcieren die Zusammenarbeit mit der kriminellen Miliz „Libysche Küstenwache", die Schutzsuchende immer wieder abfängt und in Gefangenlager in Libyen verschleppt. Schutzsuchende werden sowohl in offiziellen als auch in inoffiziellen Haftzentren in Libyen interniert, da „illegale Einreise“ dort mit Haft und Zwangsarbeit sanktioniert wird. Dennoch vertritt allen voran die Bundesregierung die Auffassung, bei der Anlandung von schiffbrüchigen Schutzsuchenden in Libyen handele es sich um eine Anlandung in einem „sicheren Hafen“. Ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) legt nun neue Beweise und Berichte über die schreckliche Situation der Flüchtlinge, die die EU mitzuverantworten hat, vor. Der Bericht mit dem Titel: „‚No one will look for you': Forcibly returned from sea to abusive detention in Libya“ zeigt die jahrzehntelange und bis heute andauernde Kontinuität der schweren Menschenrechtsverletzungen an Schutzsuchenden in Libyen.

Muster von Menschenrechtsverletzungen“

Dabei bezieht sich AI nicht auf die inoffiziellen Haftzentren, sondern die offiziellen Hafteinrichtungen der Migrationsbehörde (DCIM). Amnesty spricht von einem „Muster von Menschenrechtsverletzungen, darunter schwere Schläge, sexualisierte Gewalt, Erpressung, Zwangsarbeit und unmenschliche Bedingungen in sieben Haftzentren des libyschen Amts für die Bekämpfung illegaler Migration (DCIM).“

Gefangene verhungerten“

Im Abu-Issa-Zentrum in der Stadt Al-Zawiya berichteten Häftlinge, dass ihnen gehaltvolle Nahrung verweigert wurde, bis manche von ihnen verhungerten. In Al-Mabani und zwei weiteren DCIM-Zentren dokumentierte Amnesty International den rechtswidrigen Einsatz tödlicher Gewalt, als Wachleute und andere bewaffnete Männer auf Häftlinge schossen und es dabei zu Verletzten und Toten kam. AI-Recherchen zeigen klar, dass Schutzsuchende in Libyen willkürlich in Haft genommen und systematisch Folter, sexualisierter Gewalt, Zwangsarbeit und anderer Ausbeutung ausgesetzt werden.

AI: Europa kollaboriert mit Libyen, um Schutzsuchende gewaltsam dorthin zurückzubringen

Katja Müller Fahlbusch, Expertin für die MENA-Region bei AI in Deutschland, kommentiert den Bericht: „Die anhaltende Komplizenschaft europäischer Staaten mit Libyen ermöglicht es der libyschen Küstenwache, weiterhin Schutzsuchende auf See gewaltsam aufzugreifen und von dort nach Libyen zurück zu bringen. Die neuen Recherchen von Amnesty International zeigen, dass Geflüchtete dort willkürlich in Haft genommen und systematisch Folter, sexualisierter Gewalt, Zwangsarbeit und anderer Ausbeutung ausgesetzt werden. Die libyschen Behörden müssen alle Haftzentren sofort schließen und die willkürliche Inhaftierung von Schutzsuchenden beenden.“

Erfahrungsberichte von 53 Zeug:innen

In dem Bericht werden die Erfahrungen von 53 Geflüchteten aus solchen Lagern dokumentiert. 49 von ihnen waren direkt von der libyschen Küstenwache aufgegriffen und in die Lager verschleppt worden. AI recherchierte, dass seit 2020 Libyens Amt für die Bekämpfung illegaler Migration zwei neue Haftzentren unterstellt wurden, in denen nach AI-Bericht in den vergangenen Jahren Hunderte von Menschen durch die Hand von Milizen dem „Verschwindenlassen” zum Opfer fielen. In einem der Zentren, die seit kurzem dem DCIM unterstellt sind, sagten Überlebende, dass die Wärter Frauen vergewaltigten und sie sexualisierter Gewalt aussetzten, unter anderem indem sie sie im Austausch für Essen oder ihre Freiheit zu Sex zwangen.

Privatgefängnisse werden legalisiert

Die von deutschen Diplomaten bereits als „KZ-ähnlich“ bezeichneten Privatgefängnisse wurden in das offizielle Haftsystem integriert. Die Betreiber dieser Lager, Sklavenhändler, Folterer, Mörder und Vergewaltiger gingen straflos aus. Nicht nur das, die „Direktoren“ und Wärter der Privatgefängnisse wurden in die offiziellen Haftzentren übernommen.

Vergewaltigungen im Zentrum für besonders Schutzbedürftige

Das Haftzentrum Shara al-Zawiya bei Tripolis ist ein ehemaliges Privatgefängnis, das ebenfalls in die DCIM integriert wurde. Offiziell für besonders Schutzbedürftige bestimmt, sprechen ehemalige Gefangene von Vergewaltigungen durch die Wächter. Einige von ihnen wurden im Austausch für ihre Freilassung oder für lebenswichtige Dinge wie sauberes Wasser zu Sex gezwungen. Eine Überlebende berichtet, dass sie schwer geschlagen wurde, weil sie sich weigerte, einer solchen Forderung nachzukommen: „Ich sagte [dem Wärter] Nein. Er benutzte eine Pistole, um mich zu schlagen. Er benutzte einen ledernen Soldatenschuh ... um mich gegen die Hüfte zu [treten].“

Die tödliche Dimension der Zurückschleppung nach Libyen

In einem Bericht zweier junger Frauen heißt es, dass sie wegen solcher Misshandlungen versucht hätten, sich das Leben zu nehmen. Drei Frauen berichteten auch, dass zwei Babys, die mit ihren Müttern nach einer versuchten Überfahrt über das Meer festgehalten wurden, Anfang 2021 starben, nachdem das Wachpersonal sich geweigert hatte, sie zu einer wichtigen medizinischen Behandlung in ein Krankenhaus zu bringen.

Über 15.000 Menschen dieses Jahr in libyschen Horror zurückgeschleppt

In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 wurden 15.000 Menschen von der EU-unterstützten kriminellen Miliz „Libysche Küstenwache“ in den Lagerhorror zurückgeschleppt. Damit sind bereits mehr Menschen in die libyschen Haftzentren gebracht worden als im gesamten Jahr 2020. Trotz Berichten, dass die sogenannte libysche Küstenwache immer wieder für den Tod von Schutzsuchenden auf See verantwortlich ist, da sie Boote mit Schutzsuchenden rammt und auf sie schießt, hält die EU an ihrer Unterstützung für die Miliz fest.

Jelpke: „EU macht sich mitschuldig an Verbrechen gegenüber Flüchtlingen“

Die Migrationsexpertin der Fraktion DIE LINKE, Ulla Jelpke, fordert angesichts des Berichts: „Die Europäische Union muss ihre Zusammenarbeit mit der so genannten libyschen Küstenwache sofort einstellen.“ Die Abgeordnete fährt fort: „Solange die EU mit der kriminellen libyschen Küstenwache kooperiert, macht sie sich mitschuldig an den Verbrechen gegenüber Flüchtlingen. Wer nach Libyen zurückgebracht wird, muss dort mit Folter, Sklavenarbeit und Gewalt rechnen. Es ist höchst beschämend, dass die EU dieses System unterstützt, indem sie der Küstenwache die Koordinaten von Flüchtlingsbooten übermittelt. Das ist nichts weiter als Beihilfe zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen. Es darf keine Auslieferungen von Geflüchteten an libysche Milizen geben. Stattdessen muss die EU endlich selbst eine zivile Seenotrettungsoperation starten. Die Bundesregierung muss hierbei mit gutem Beispiel vorangehen und in weit größerem Umfang als bisher aus Seenot Gerettete aufnehmen. Menschen müssen gerettet, nicht in die Hände von Folterern ausgeliefert werden.“