Insgesamt 200 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte haben sich am Freitag vor dem Justizpalast in der nordkurdischen Metropole Riha (tr. Urfa) zusammengefunden, um ihre Solidarität mit dem Kampf von Emine Şenyaşar zu bekunden. Seit 200 Tagen fordert die 70-Jährige mit einer Mahnwache vor dem Justizpalast Gerechtigkeit für ihren Ehemann und zwei ihrer Söhne, die im Juni 2018 in der Kreisstadt Pirsûs (Suruç) Opfer von Lynchmorden, die ein AKP-Mob ausführte, wurden. Nur einer von zwei Dutzend beteiligten Angreifern sitzt im Gefängnis. Das Verfahren wird verschleppt, die türkische Justiz zeigt kein Interesse an einer Aufklärung der Morde und Bestrafung der Täter. Stattdessen werden die Hinterbliebenen zu Opfern systematischer Repression.
„Die Forderungen der Familie Şenyaşar sind auch unsere Forderungen“, erklärte Ali Arslan, Ko-Vorsitzender der Zweigstelle des Juristenverbands ÖHD (Özgürlük için Hukukçular Derneği), zu Beginn der Mahnwache. Dazu aufgerufen hatte im Vorfeld die Anwaltskammer Riha. Neben vielen Mitgliedern der progressiven Juristenvereinigung ÇHD (Çağdaş Hukukçular Derneği) mit Sitz in Istanbul waren auch die Vorsitzenden von vielen Anwaltskammern gekommen. Arslan bedankte sich für das zahlreiche Erscheinen und wies sodann darauf hin, dass die Ungerechtigkeit im Fall der Familie Şenyaşar „durch die Hand der Justiz“ andauern würde. Die Untätigkeit der Justiz führe zur Straflosigkeit für die Täter, beklagte der Jurist. Die Bemühungen von Emine Şenyaşar und ihrem Sohn Ferit, der 2018 nur knapp einem Lynchmord entgehen konnte, endlich zu geltendem Recht zu gelangen, würden durch den Justizapparat und Sicherheitsbehörden systematisch blockiert. „Gerade deshalb ist es unabdingbar, solidarisch zu sein mit Emine Şenyaşar und ihrem Kampf um Gerechtigkeit”, so Arslan.
23 Kugeln auf Adil und Cemal Şenyaşar: Was war in Pirsûs passiert? Zehn Tage vor der Parlamentswahl am 24. Juni 2018 suchte der AKP-Abgeordnete Ibrahim Halil Yıldız in Begleitung von Verwandten und Leibwächtern den Familienbetrieb der Familie Şenyaşar auf. Nach einer verbalen Auseinandersetzung wurden Mehmet, Celal und Adil Şenyaşar mit Schussverletzungen in ein Krankenhaus gebracht. Zwei von ihnen wurden dort vor den Augen des Personals ermordet. Die Gerichtsmedizin stellte bei der Autopsie von Celal Şenyaşar Einschüsse von Kugeln aus mindestens sechs Schusswaffen verschiedenen Kalibers fest. Bei Adil Şenyaşar wurden an 14 Stellen des Körpers Schnitt- und Stichverletzungen wie auch Schlagverletzungen mit harten Gegenständen festgestellt. Im Bericht heißt es, dass Adil „extremer Gewalt“ ausgesetzt gewesen sei. In seinem Körper wurden siebzehn Kugeln verschiedenen Kalibers gefunden. Von diesen Projektilen waren fünf tödlich. Nur zwei der Geschosse wurden nicht aus dem Nahabstand abgefeuert. Der Vater Hacı Esvet Şenyaşar, der zu Fuß in das Krankenhaus herbeigeeilt war, wurde dort durch Schläge mit einer Sauerstoffflasche auf den Kopf schwer verletzt. Er starb einen Tag später, während die Beerdigung seiner zwei Söhne von der Polizei mit Tränengas angegriffen wurde.
Anwalt zeichnet Bild der systematischen Repression
Der Rechtsanwalt zeichnete im weiteren Verlauf seiner Ansprache ein Bild der systematischen Repression gegen die Seniorin und ihren beinahe ermordeten Sohn. Permanent würden beide eingeschüchtert und bedroht. Arslan sprach – den Blick auf die anwesende Polizei gerichtet, die die Kundgebung eingekesselt hatte – von Festnahmen ohne juristische Grundlage, von Gewalt gegen Emine und Ferit Şenyaşar, Bußgeldern und Platzverweisen, Ermittlungsverfahren wegen angeblichen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz, Meldeauflagen und Anklagen wegen vermeintlicher Beleidigung eines Amtsträgers – angestrengt durch den AKP-Abgeordneten Ibrahim Halil Yıldız, der den Lynchmob vor drei Jahren anführte.
Mahnwache im Polizekessel
Besonders perfide an dem Vorgehen der türkischen Justiz ist auch die fast 38-jährige Haftstrafe für Fadıl Şenyaşar, einen weiteren Überlebenden, wegen des Mordes an einem der Angreifer. Er wurde verurteilt, obwohl er nachweislich nicht auf den Mann geschossen hat. Rechtsanwalt Ali Arslan wies darauf hin, dass das Verfahren um die Krankenhaus-Morde noch immer nicht eröffnet worden ist und die bereits wenige Tage nach der Tat verfügte Geheimhaltungsverfügung über der Ermittlungsakte weiterhin anhängig ist. „All diese Formen der Repression dienen einzig dem Zweck, Emine Şenyaşar und Ferit Şenyaşar zu entmutigen und zur Kapitulation zu zwingen“, kritisierte Arslan. Die Justiz wolle die Morde unter den Teppich kehren und Unrecht walten lassen. „Dennoch oder gerade deshalb geben die Hinterbliebenen nicht auf und halten an ihrem Kampf für Gerechtigkeit seit mittlerweile 200 Tagen fest. Für uns gilt es, diesen Widerstand zu würdigen und solidarisch beizustehen.“