YBŞ-Kommandant: Wir üben unser legitimes Recht auf Selbstverteidigung aus

„Wir wollen keinen Krieg mit dem Irak, aber wir sind bereit, Widerstand gegen Angriffe auf unsere Strukturen zu leisten. Wir üben unser legitimes Recht auf Selbstverteidigung aus, um unsere Errungenschaften zu schützen“, sagt der YBŞ-Kommandant Xebat Ereb

Der Auseinandersetzungen in der ezidisch geprägten Şengal-Region zwischen den Sicherheitskräften der Autonomieverwaltung und der irakischen Armee dauern in aller Intensität an. Die Truppen der Regierung in Bagdad gehen mit Panzereinheiten, schweren Waffen und Kampfhubschraubern gegen die Stellungen der Verteidigungseinheiten YBŞ, YJŞ und Asayîşa Êzîdxanê vor, in Digurê ist eine Schule in Schutt und Asche gelegt worden. Zahlreiche Dörfer befinden sich zwischen den Fronten, das irakische Militär verhindert sowohl die Evakuierung als auch den Zutritt in die betroffenen Ortschaften von außerhalb. Vielerorts finden weiterhin Gefechte statt, es ist von einer bislang unbekannten Zahl Toter und Verletzter die Rede.

Gegenüber ANF äußerte der YBŞ-Kommandant Xebat Ereb: „Wir haben die Regierung in Bagdad mehrfach aufgefordert, die militärische Aggression gegen unsere Strukturen zu unterlassen. Ein Krieg, den wir ohnehin nicht wollen, wird niemandem nützen. Wir kämpfen gegen Kräfte, die diese Region destabilisieren möchten. Hunderte aus unseren Reihen sind im Widerstand für Şengal bereits gefallen. Denn als militärische Kraft verteidigen wir unsere Existenz und unsere Würde. Wir setzen uns für die Stärkung der Einheit der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in der Region ein. Doch angesichts der gezielten Angriffe auf uns, die es in letzter Zeit immer häufiger gab, üben wir unser legitimes Recht auf Selbstverteidigung aus.“


Man sei auf alle möglichen Angriffe in der Region vorbereitet, führte Xebat Ereb weiter aus. „Es geht um unsere Existenz, die wir lediglich schützen. Das autonome Şengal ist auf dem Blut unseres Volkes errichtet worden. Wir haben das Recht, unsere erkämpften Errungenschaften zu verteidigen und uns selbst zu verwalten. Gerade mit Blick auf das Wiedererstarken des IS in nahezu allen Teilen des Landes stoßen die derzeitigen Angriffe des Irak auf noch mehr Unverständnis als sonst. Wir gehen davon aus, dass der türkische Staat hinter den Bemühungen steckt, den IS wiederzubeleben.“

Von Genozidüberlebenden aufgebaut

Die Widerstandseinheiten Şengals (YBŞ), die autonomen Fraueneinheiten YJŞ und die Asayîşa Êzîdxanê für die innere Sicherheit sind nach dem Völkermord der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) 2014 an der ezidischen Gemeinschaft von Überlebenden des Genozids aufgebaut worden. Unterstützt wurden sie dabei von der kurdischen Guerilla, die der ezidischen Bevölkerung damals zur Hilfe eilte, nachdem die Truppen der irakischen Zentralregierung und die Peschmerga der südkurdischen Regionalregierung den Şengal fluchtartig verließen und den Völkermord dadurch mitermöglichten. Mehr als drei Jahre leistete die Guerilla Unterstützung in den Bereichen Ausbildung, Verteidigung und Organisierungsarbeit, bevor sie sich im Frühjahr 2018 aus Şengal vollständig zurückzog. Dennoch werden die YBŞ und YJŞ mit dem Label „PKK-Schwesterorganisation“ versehen und entsprechend kriminalisiert. Die Behauptung des „strukturellen Zusammenhangs“ zwischen den Verteidigungskräften Şengals und der PKK-Guerilla wurde in den vergangenen Jahren immer wieder als Grundlage für militärische Angriffe herangezogen – häufig durch den türkischen Staat. Immer wieder greifen türkische Killerdrohnen gezielt die Kräfte der YBŞ/YJŞ, aber auch die Zivilbevölkerung an. Erst im August hatte die türkische Luftwaffe ein Krankenhaus in Şengal bombardiert. Bei der Attacke kamen vier YBŞ-Kämpfer und vier Gesundheitsbedienstete der Klinik ums Leben.

Hintergründe der Eskalation

Dass die seit einigen Monaten immer wiederkehrenden Spannungen in Şengal nun eskaliert sind und in einen umfassenden Angriff mündeten, dürfte an einer Vereinbarung zwischen Bagdad, Hewlêr (Erbil) und Ankara liegen. Die irakische Führung versucht schon länger, im Schulterschluss mit der südkurdischen Regionalregierung die Sicherheits- und Verteidigungsstrukturen in Şengal zu entwaffnen und die dortige Selbstverwaltung aufzulösen. Grundlage ist das über die Köpfe der ezidischen Gemeinschaft hinweg getroffene „Şengal-Abkommen“, das im Oktober 2020 unter türkischer Regie zwischen Bagdad und Hewlêr vereinbart wurde. Der Vertrag besteht aus einer Reihe von sicherheitspolitischen und verwaltungstechnischen Maßnahmen und legt Verantwortlichkeitsbereiche der Behörden fest – zum Nachteil der Ezid:innen. Sie haben kein Mitspracherecht. Bisher scheiterte die Umsetzung dieses unter türkischer Regie zustande gekommenen Abkommens am entschlossenen Widerstand der Bevölkerung.