Der türkische Staat versucht seit April 2022, die Medya-Verteidigungsgebiete zu erobern. Die Großoperation in den südkurdischen Regionen Zap, Avaşîn und Metîna sollte binnen weniger Wochen abgeschlossen sein, steckt jedoch aufgrund des massiven Widerstands der Guerilla seit neun Monaten fest. Die türkische Armee musste sich sogar aus Teilen der Zap-Region fluchtartig zurückziehen. Im ANF-Gespräch beantwortet Murat Karayılan aus dem Exekutivkomitee der PKK Fragen zu den militärischen Entwicklungen des vergangenen Jahres. Einige Auszüge aus dem langen Interview sollen hier veröffentlicht werden.
„Sie sind im Zap eingeschlossen“
Laut der Jahresbilanz des Volksverteidigungszentrums (NPG) wurden im Jahr 2022 3.034 Guerillaaktionen durchgeführt, bei denen 2.942 Mitglieder der Invasionstruppen getötet wurden. 301 Guerillakämpfer:innen sind gefallen. In Bezug auf diese Bilanz sagt Karayılan: „Ich kann die Korrektheit unserer Jahresbilanz vollkommen bestätigen. Wir haben das Jahr und seine Ergebnisse ohne Übertreibungen und auf eine zurückhaltende Weise ausgewertet. Das AKP/MHP-Regime wollte 2022 umsetzen, was es 2021 nicht geschafft hat. Es plante, die Gebiete Zap, Avaşîn und Metîna in zwei bis drei Wochen vollständig zu besetzen und die Angriffs- und Belagerungspläne in einigen Monaten auch mit der Besetzung bzw. Umzingelung von Gare, Qendîl, Şengal usw. fortzusetzen. Dieser Plan des AKP/MHP-Regimes blieb aber bereits in der Zap-Region stecken. Das Regime bezeichnete diese Operation als ‚Klauen-Schloss‘, aber es selbst ist im Zap eingeschlossen. Seit zwei Jahren ist der türkische Staat trotz der Zustimmung der Kadhimi-Regierung im Irak und der aktiven Unterstützung der PDK nicht in der Lage, die Medya-Verteidigungsgebiete zu besetzen, und das, obwohl er mit seiner ganzen modernen Technologie, verbotenen Bomben und chemischen Waffen angreift. Dies ist ein eindeutiges und klares Ergebnis. Daher konnte der erste Schritt des AKP/MHP-Regimes, die Grenzen von Misak-i Milli (Osmanischer Nationalpakts) zu erreichen, nicht verwirklicht werden. Dieser Plan stieß auf die unzerstörbare Mauer der Freiheitsguerilla Kurdistans.“
„Wenn sie sich nicht zurückgezogen hätten, wären sie vernichtet worden“
Zum türkischen Teilrückzug aus den Medya-Verteidigungsgebieten sagt der Kommandant: „Unser Maßstab ist Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit und Offenheit. Unsere Grundlage ist, zu tun, was wir sagen. Die Deckung von Wort und Tat ist eines der wichtigsten Grundprinzipien des Apoismus. Auch ich sehe mich an diese Prinzipien gebunden. Ich habe in Bezug auf die türkischen Soldaten auf den Gipfeln von Amêdî und in Sêdarê gesagt: ‚Entweder sie gehen, oder sie sterben alle. Es gibt keinen anderen Weg.‘ Ich habe damit eine Realität ausgedrückt, die sich tatsächlich bewahrheitet hat. Die Soldaten wurden getroffen, erlitten Verluste und mussten sich dann von dort zurückziehen. Wären sie noch zwei Tage geblieben, wären sie alle vernichtet worden. Das Gleiche gilt für andere Orte.“
An Verteidigungsminister: „Sie haben 2.800 Söhne in den Tod geschickt“
Der Behauptung des türkischen Verteidigungsministers Hulusi Akar, die Operation „Klauen-Schloss“ sei abgeschlossen und die anvisierten Orte besetzt worden, widerspricht Karayılan und sagt, der türkische Verteidigungsminister müsse der Öffentlichkeit in der Türkei Fragen beantworten: „Wenn Sie erfolgreich sind, wie erklären Sie dann die Leichen der Soldaten, die sich noch in den Händen der Guerilla befinden? Warum haben Sie den Soldaten am 11. September 2022 befohlen, die Leichen zu verbrennen, damit sie nicht in die Hände der Guerilla fallen? Was sagen Sie zu den Bildern der Guerilla, auf denen Soldaten Leichen verbrannt haben? Wenn Sie das ‚Schloss‘ zugezogen haben, warum haben Sie sich dann vom Girê Cûdî, Sêdarê und Girê Amêdî zurückgezogen, und wie erklären Sie die Tatsache, dass Sie nur noch versuchen, an zwei der Stellen in der westlichen Zap-Region zu bleiben, obwohl sie die ganze Region besetzen wollten? Sie haben eine komplette Niederlage in der Zap-Region erlitten, wie wollen Sie diese vertuschen? Wenn Sie ‚Klauen-Schloss‘ abgeschlossen haben, wie erklären Sie sich dann die anhaltenden heftigen Auseinandersetzungen in den Gebieten Sîda und Çemço bei Şîladizê in der östlichen Zap-Region? Wie lange werden Sie in der Lage sein, die dort stattfindenden heftigen Zusammenstöße, bei denen alle Arten von Waffen eingesetzt werden, zu verbergen? Sie haben zusammen mit Tayyip Erdoğan in den letzten achteinhalb Monaten 2.800 Söhne des türkischen Volkes durch eine illusionäre Planung und falsche Kriegstaktik in den Tod geschickt, nur um Ihre Macht zu erhalten. Haben Sie angesichts dieser Tatsache jemals Ihr Gewissen befragt?“
„Die Geisterguerilla“
Karayılan fährt zur Taktik der Guerilla fort: „Das AKP/MHP-Regime hat nicht mit unserer taktischen Leistungsfähigkeit und der apoistischen Entschlossenheit der PKK gerechnet. Es hat unsere taktischen Fähigkeiten nicht richtig erkannt. Man dachte offensichtlich, man könne die Guerilla mit illusionären Projekten und einer solchen militärischen Planung überwinden. Der taktische Rahmen, den wir entwickelt hatten, und die Doktrin der Kriegsführung, die wir anwandten, waren jedoch darauf ausgerichtet, mit einer entschlossenen und höchst innovativen Strategie Ergebnisse zu erzielen. Neben diesem neuen taktischen Aufbruch, der auf Erfolg in jedem Fall abzielt, wollten wir eine der Phase angemessene Vorgehensweise etablieren. Sie wurde vielleicht aufgrund von alten Gewohnheiten nicht vollständig umgesetzt, aber es handelt sich um eine Vorgehensweise, mit der alles ausgehebelt werden soll, ob Drohnen, Überwachungskameras oder die PDK. Wenn wir diese auf Selbstdisziplin, raffinierter Tarnung und großer Konspirativität beruhende Vorgehensweise richtig anwenden, dann haben wir eine echte Geisterguerilla, die alle Vorkehrungen überwindet. Dafür müssen wir härter arbeiten und die alten Gewohnheiten vollständig überwinden.“
„Zwei Taktiken der Guerilla“
Karayılan weist darauf hin, dass es für die türkische Armee nicht möglich sei, der Guerilla ohne Luftunterstützung standzuhalten. Er erklärt, man habe zwei verschiedene taktische Ansätze entwickelt, um den Vorteil der Lufthoheit der türkischen Armee auszugleichen: „Wir verteilen unsere Kräfte in spezialisierten Einheiten über das Gelände und machen sie so unsichtbar. Dadurch wurde sichergestellt, dass keine großen Gruppen angegriffen werden konnten. Wir setzen die Einheiten im Feld ein, so als ob wir das gesamte Gelände vermint hätten.
Außerdem errichteten wir unterirdische Festungen. In der Geschichte spielten oberirdische Festungen eine große Rolle in Kriegen. Heute haben wir diese Festungen umgedreht und sie zu unterirdischen Festungen ausgebaut. Diese Festungen neutralisieren Luftangriffe.
Daher ist die richtige Art und Weise der Bewegung unserer Einheiten, die Art und Weise, wie sie sich im Gelände verteilen, und der Grad der unterirdischen Positionierung eine taktische Leistung, die darauf abzielt, die technische Überlegenheit der Invasionstruppen auszugleichen. Das haben diese nicht verstanden. Sie dachten, sie könnten uns leicht überwinden. Die PKK ist aber kein so einfacher Happen. Die praktischen Ergebnisse haben gezeigt, dass die militärische Macht und die ideologische Entschlossenheit der PKK stark und in der Lage sind, technische Überlegenheit auszugleichen.
Die von der kurdischen Freiheitsguerilla entwickelte Kriegsführung stellt ein Novum dar. Es ist ein Novum, dass eine militärische Kraft, die auf menschlichem Willen, Können und Fähigkeiten beruht, ihre Unbesiegbarkeit gegen moderne Technologie demonstriert, alle Arten von Angriffen des Feindes vereitelt und dabei auch noch zurückschlägt.
„Die taktische Perspektive der Guerilla verhindert Verluste“
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal sagen, das Verhältnis der Verluste liegt bei zehn zu eins. Und das, obwohl die türkische Armee über so viel Technologie verfügt. So wurden beispielsweise die Gebiete Zap, Avaşîn und Metîna im Laufe des Jahres 4.527 Mal von Flugzeugen und 5.701 Mal von Hubschraubern angegriffen. Insgesamt fanden in achteinhalb Monaten 10.228 Luftangriffe statt. Stellen Sie sich vor, dass Tonnen von Bomben auf jeden Quadratmeter dieser Gebiete fallen. Wenn wir heute noch dort leben und der Widerstand weitergeht, ist das zweifellos ein Novum. Taktische Nuklearwaffen und Giftgas wurden 3.280 Mal gegen diese Gebiete eingesetzt. Trotz alledem liegt die Zahl unserer Gefallenen bei 301. Dies sind die Gefallenen aus dem ganzen Jahr. Das ist angesichts der Tatsache, dass eine Kraft trotz des Einsatzes aller Arten von Waffen, mit denen das Kriegsgebiet in eine Hölle verwandelt wird, eine solche Zahl von Gefallenen erlitten hat und trotz alledem weiter Widerstand leistet. Es liegt auf der Hand, dass diese von der Guerilla angewandte taktische Perspektive Verluste verhindert und dem Feind schwerste Schläge zufügt.“
„Dieses Jahr ist möglicherweise das wichtigste Jahr“
Karayılan erklärt, es zeichne sich bereits ab, dass 2023 in vielerlei Hinsicht anders und noch wichtiger sein werde. Das Jahr werde vielleicht das wichtigste Jahr in der Geschichte des Kampfes und in vielerlei Hinsicht zu entscheidenden Ergebnissen führen: „Der Kampf in und außerhalb der Gefängnisse, das große Zap-Syndrom, das die Guerilla beim Feind ausgelöst hat, der Widerstand der Guerilla in Form von Selbstverteidigung im Norden und die damit zusammenhängenden Entwicklungen in den anderen Kampfgebieten sind sehr bedeutsam. Der türkische Staat ist in der Zap-Region gefangen und eingesperrt. Es wurde deutlich, dass man aus der Situation in den Medya-Verteidigungsgebieten keine Siegesgeschichte dichten konnte, aber das AKP/MHP-Regime braucht eine solche Erfolgsgeschichte, um die Wahlen zu gewinnen. Deshalb hat es sich nun Rojava zugewandt. Es plant, dort anzugreifen. Auch das gemeinsame Vorgehen von Russland, Syrien und der Türkei birgt neue Entwicklungen.
In Ostkurdistan gibt es eine von Frauen angeführte Volksbewegung unter der Parole ‚Jin Jiyan Azadî‘. Diese Bewegung hat sich auf den ganzen Iran ausgeweitet. Dies zeigt die Verbundenheit der Menschen mit der Demokratie.
Die Wahlen 2023 sind die Schicksalsstunde für das faschistische AKP/MHP-Regime. Es wird sich mit aller Kraft bemühen, die Macht nicht abzugeben. Es will in den nächsten Monaten einen Erfolg erzielen, indem es alle seine Mittel sowohl im militärischen als auch im politischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Bereich mobilisiert. All das sind Vorboten eines Jahres, das viele Entwicklungen mit sich bringen wird.
Zweifellos müssen die revolutionären und demokratischen Kräfte auch darauf abzielen, das faschistische Regime zu überwinden, indem sie dem Feind eine Niederlage beibringen. In dieser Hinsicht spielt insbesondere der Kampf, den wir in Kurdistan entwickelt haben, eine entscheidende Rolle.
Wenn das Regime mit seinen Angriffen auf unsere Bewegung Erfolg hat, wird es alle anderen Dynamiken im Staub zurücklassen, mit Siegesgeschrei und einer Welle von Chauvinismus die Türkei ersticken und bis zum Äußersten gehen. In dieser Hinsicht geht es vor allem um unseren Kampf. Der Kampf der Guerilla, unseres Volkes, unserer Bewegung als Ganzes und der antifaschistische Kampf der demokratischen Kräfte gegen den Faschismus sind von essenzieller Bedeutung. Wir stehen vor einer historischen Aufgabe. Es handelt sich um eine Zeit, in der sich die Zukunft aller Völker der Türkei entscheiden wird. Als apoistische Bewegung sind wir uns bewusst, dass unser Kampf dabei eine große Rolle spielt. Wir werden uns bemühen, in dieser Hinsicht unserer Verantwortung gerecht zu werden. Es ist klar, dass unser Kampf auch ein Kampf für die Demokratie in der Türkei ist. Wir müssen eine Rolle als wichtiger Akteur bei der Demokratisierung der Republik übernehmen. In diesem Sinne müssen wir unsere Verantwortung nicht nur gegenüber Kurdistan, sondern auch gegenüber allen Völkern der Türkei und der Region wahrnehmen. Es ist eine große historische Aufgabe, das Notwendige zu tun, um den Weg in der Türkei für die Demokratie und nicht für den Faschismus zu ebnen und diesen Kampf, der zu großen Entwicklungen führen wird, erfolgreich zu führen. In dieser Hinsicht wird das Jahr 2023 ein Jahr der großen Entwicklungen sein. Wir haben uns vorgenommen, das Jahr 2023 zum absoluten Erfolg zu machen. Auf dieser Grundlage muss gesagt werden, dass der kommende Prozess kein normaler, sondern ein außerordentlicher Prozess ist, und dass in diesem außerordentlichen Prozess alle ihre Aufgaben mit außerordentlichem Engagement und Aufopferung erfüllen müssen.“