„Mitverantwortliche des Genozids können uns nicht verteidigen“

„Fast 300 Gefallene hat uns die Verteidigung des ezidischen Volkes gekostet. Wir werden nicht akzeptieren, dass diejenigen, die sich ihrer Verantwortung entzogen haben, über unser Schicksal entscheiden werden“, erklären YBŞ-Kämpfer zum Şengal-Abkommen.

Die Debatte über das auf Drängen der USA und der Türkei zwischen Bagdad und Hewlêr geschlossene Abkommen über die Zukunft der ezidischen Şengal-Region bestimmt derzeit die Tagesordnung in Kurdistan. In dem Abkommen geht es unter anderem um verwaltungstechnische und sicherheitspolitische Fragen sowie die Bereitstellung von staatlicher Infrastruktur. Außerdem beinhaltet es die Auflösung der ezidischen Widerstandseinheiten Şengals (YBŞ) und der autonomen Fraueneinheiten (YJŞ) und ihre Ersetzung durch die PDK-Peschmerga.

Die Peschmerga der südkurdischen Autonomieregierung hatten die Ezid*innen mit ihrem blitzartigen Rückzug in der Nacht des 3. August 2014 der Terrormiliz „Islamischer Staat” (IS) überlassen und so den IS-Genozid mit ermöglicht. Jetzt, nachdem die ezidische Gemeinschaft eine politische, gesellschaftliche und kulturelle Selbstverwaltung sowie ihre Selbstverteidigung aufgebaut hat, beansprucht die PDK die Kontrolle über ihre Siedlungsgebiete für sich, um Schützenhilfe für die neo-osmanischen Großmachtpläne der Türkei zu leisten.

Das am 9. Oktober unter UN-Aufsicht in der irakischen Hauptstadt Bagdad unterzeichnete Abkommen, das die Wünsche der Bevölkerung Şengals vollkommen außen vorlässt und an dessen Vermittlung auch Deutschland und Frankreich beteiligt gewesen sein sollen, wird von den Ezid*innen als „Ausverkauf“ und „Fortsetzung des Genozids“ bewertet. Nicht nur vor dem Hintergrund, dass über die Köpfe der Bevölkerung Şengals hinweg das Schicksal der Menschen besiegelt werden soll, stößt die Vereinbarung auf breite Ablehnung. Vor allem die geplante Auflösung der ezidischen Kampfverbände entrüstet die Ezid*innen. Die YBŞ und YJŞ sowie der Êzîdxan-Asayisch spielen nicht nur bei der Verteidigung von Şengal eine wichtige Rolle, sie sind auch ein wichtiger Faktor zur Stabilisierung des Irak geworden. Bei der Bevölkerung genießen sie breiten Rückhalt.

Gefragt nach ihrer Meinung gaben YBŞ-Mitglieder an, dass das Abkommen zur Zukunft Şengals keine Gültigkeit für sie habe. „Fast 300 Gefallene hat uns die Verteidigung des ezidischen Volkes seit Gründung unserer Strukturen gekostet. Wir werden nicht akzeptieren, dass diejenigen, die sich ihrer Verantwortung entzogen haben, über unser Schicksal entscheiden werden“, erklärte Şahîn Şengalî.

Auch andere YBŞ-Kämpfer, mit denen wir sprachen, weisen das Abkommen zurück. Seit sechs Jahren seien es die ezidischen Widerstandseinheiten, die sich am entschiedensten den Bedrohungen gegen ihr Volk entgegenstellten. Es bedürfe weder der Peschmerga noch einer anderen Kraft für die Verteidigung der ezidischen Bevölkerung in Şengal. Ohnehin sei es mehr als unglaubwürdig, dass die PDK, die eine Mitschuld am Völkermord trage, für die Verteidigung der ezidischen Existenz sorgen wolle. Im Gegenteil: der Einzug von PDK-Peschmerga in Şengal würde die Region nur destabilisieren. „Wir Töchter und Söhne von Êzîdxan lassen uns nicht vertreiben und werden unser Volk weiterhin beschützen.“

Die Flucht der Peschmerga beim IS-Genozid

Als der IS am 3. August 2014 in Şengal einrückte, zogen sich die rund 12.000 in der Region stationierten Peschmerga der südkurdischen Regierungspartei PDK ohne Vorwarnung zurück und überließen die dort lebenden Ezid*innen schutzlos dem IS. Für die ezidische Gemeinschaft begann die systematische Massakrierung, Vergewaltigung, Folterung, Vertreibung, Versklavung von Mädchen und Frauen sowie Zwangsrekrutierung von Jungen als Kindersoldaten. Wer fliehen konnte, zog sich in das Gebirge zurück. Dort schützten zunächst weniger als ein Dutzend Guerillakämpfer der HPG den Eingang zum Gebirge und verhinderten das Eindringen der Dschihadisten.

Die PKK hatte bereits am 28. Juni 2014 nach einem Aufruf des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan ein zwölfköpfiges Vorabkommando zur Verteidigung von Şengal entsandt. Zwanzig Tage vor dem Massaker nahmen die Peschmerga drei Mitglieder der Gruppe und einen ezidischen Unterstützer fest. Die übrigen Guerillakämpfer zogen ins Şengal-Gebirge und begannen mit der Organisierungsarbeit der Jugend. Als am 3. August der IS-Angriff begann, verteidigte eine neunköpfige Guerillagruppe die in die Berge geflohene Bevölkerung.

Die Guerillakämpfer hielten die westlich von Şengal verlaufende Straße von Sinûnê nach Dugirê und ließen keine Eroberung des Bergs durch den IS zu. Die ezidischen Jugendlichen zogen Kraft aus dem Guerillawiderstand und schlossen sich der Verteidigung des Berges an. Nachdem die neunköpfige Guerillagruppe ohne Essen und Trinken mehrere Tage gegen die Angriffe des IS Widerstand geleistet hatte, kamen ihnen weitere Guerillaeinheiten sowie zwei Bataillone der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava zu Hilfe. Anschließend richteten die YPG/YPJ und die HPG einen Sicherheitskorridor ein, um die zu Hunderttausenden ins Şengal-Gebirge geflohenen Ezid*innen nach Rojava zu evakuieren. Über diesen Korridor konnten mit der Zeit über 150.000 Menschen nach Rojava gelangen. So konnte ein noch größeres Massaker verhindert werden. Die YPG/YPJ und HPG kämpften aufopferungsvoll und immer wieder auch unter Verlusten, um diesen „humanitären Korridor“ aufrechtzuerhalten. 100 Kämpferinnen und Kämpfer fielen beim Schutz der Evakuierung der Bevölkerung. Insgesamt wurden beim Şengal-Massaker etwa 300 Kämpfer*innen von YPG/YPJ und HPG durch den IS getötet.

Aufgrund dieser Erfahrung wurden die YBJ und YJŞ als eigene Verteidigungskräfte für Şengal gegründet. Diese bewaffneten Einheiten bestehen überwiegend aus Ezidinnen und Eziden aus der Region, jedoch auch aus Araber*innen aus Şengal und Internationalist*innen aus der ganzen Welt. Die HPG-Guerilla erklärte nach dreieinhalb Jahren ihre Aufgabe für beendet und wurde aus Şengal abgezogen. Parallel zu den bewaffneten Einheiten ist in Şengal eine Selbstverwaltung ähnlich wie in Rojava aufgebaut worden.