Als die Banden vom „Islamischen Staat“ (IS) am 3. August 2014 in Şengal einfielen, kam die Guerilla den ezidischen Kurden zur Hilfe. Einer dieser Guerillakämpfer war Êrîş Hewraman. Gegenüber ANF hat er sich zu dem damaligen Massaker und dem Widerstand geäußert:
„Nach der Besatzung von Mossul durch den IS hat unsere Bewegung eine Lagebewertung angestellt und die Entsendung von Guerillaeinheiten nach Şengal beschlossen. Ich war in der ersten Gruppe, die nach Şengal gegangen ist. Ich war vorher nie dort gewesen und kannte weder die Region noch die örtlichen Gegebenheiten. Es waren keine Kräfte mehr dort, alle waren weggelaufen. Die Bevölkerung von Şengal ist sozusagen den Wölfen zum Fraß vorgeworfen worden. Während die anderen wegliefen, gingen wir dorthin. Was ich in Şengal erlebt habe, kann ich niemals vergessen. Auf der einen Seite war unsere Wut, auf der anderen Seite die verzweifelten Menschen, die in ein sicheres Gebiet zu flüchten versuchten. Das machte die Wichtigkeit unserer Aufgabe deutlich.“
Alle Augen waren auf die Guerilla gerichtet
„Die Menschen wussten zuerst gar nicht, wer wir sind. Auch wir kannten die ezidische Gesellschaft nicht besonders gut. Die Begrüßung durch die Bevölkerung war ein besonderer Moment für uns. Die Menschen freuten sich sehr. Die Bewegung kannten sie kaum, aber ihnen war klar, dass die Guerilla gekommen ist, um sie zu beschützen. Es waren sehr beeindruckende und schmerzvolle Momente. Wenn die Menschen uns ansahen, leuchtete Hoffnung in ihren Augen auf.
Die Guerilla ist nach Şengal gekommen, als die ganze Welt geschwiegen hat. Alle fragten sich, was die Guerilla dort für eine Rolle spielen wird. Es waren Tausende Peschmergakämpfer in der Region. Sie hätten den 74. Ferman [Bezeichnung für Massaker am ezidischen Volk] verhindern können, aber sie zogen sich zurück, anstatt die Bevölkerung zu verteidigen. Alle Augen waren daher auf die Guerilla gerichtet. Die Guerilla erreichte unter großen Schwierigkeiten die Şengal-Berge und kam den Menschen zur Hilfe. Tausende konnten so gerettet werden. Die Guerilla hat in Şengal ein weiteres Mal bewiesen, dass sie die Verteidigungskraft ganz Kurdistans ist. Wo auch immer Gefahr droht, die Guerilla ist bereit, zu kämpfen und die Bevölkerung zu schützen. Die ganze Welt hat gesehen, dass die Guerilla Kurdistans professionelle Verteidigungskraft ist.“
Von der Finsternis ins Licht
Der HPG-Kämpfer erinnert daran, dass der Widerstand in Şengal mehrere Monate lang von einer sehr kleinen Guerillaeinheit fortgesetzt worden ist. Schritt für Schritt sei Şengal aus der Finsternis wieder ins Licht getreten, so Êrîş Hewraman. Das sei den dort gefallenen Kämpferinnen und Kämpfern zu verdanken: „Die Guerilla kämpfte nicht nur an einem Ort. Mit der Zeit wurden alle Gebiete Şengals befreit. Die Bevölkerung bekam die Gelegenheit zu einem neuen Leben. Vorher gab es dort kaum Bildungsmöglichkeiten, jetzt wurden Schritt für Schritt Angebote geschaffen. Es wurden die Verteidigungskräfte YBŞ und YJŞ gegründet. Es wurden die Grundlagen für eine Autonomieverwaltung gelegt. Kurz gesagt wurden auf der einen Seite Befreiungsoffensiven durchgeführt, auf der anderen Seite wurde die Bevölkerung auf ein neues Leben vorbereitet.“
Selbstbestimmung ermöglicht
„Şengal ist inzwischen in der Lage, sich selbst zu verwalten und zu verteidigen. Die Kräfte der HPG und YJA-Star haben sich nach Beendigung ihrer Aufgabe zurückgezogen. Die Bevölkerung wollte das nicht. In Şengal war jedoch ein Bewusstsein entstanden und es gab inzwischen eine Kraft, die Şengal gegen Angriffe verteidigen konnte. Natürlich gibt es immer noch feindliche Pläne. Das zeigt der Feind mit seinen gelegentlichen Luftangriffen. Aber Şengal ist nicht wie früher. Als Guerilla stehen wir nicht nur für die Verteidigung Şengals, sondern der Bevölkerung ganz Kurdistans bereit. Ab jetzt sind die Ferman nicht mehr das Schicksal der Bevölkerung von Şengal. Sie selbst wird die Zukunft Şengals bestimmen. Und wir sind auf dem Weg zu Demokratie und Freiheit zu jeder Unterstützung bereit.“
Hintergrund: PKK rettet Zehntausende Menschen in Şengal
Als der IS am 3. August 2014 in Şengal einrückte, zogen sich die rund 12.000 in der Region stationierten Peschmerga der südkurdischen Regierungspartei PDK ohne Vorwarnung zurück und überließen die dort lebenden Ezid*innen schutzlos dem IS. Für die ezidische Gemeinschaft begann die systematische Massakrierung, Vergewaltigung, Folterung, Vertreibung, Versklavung von Mädchen und Frauen sowie Zwangsrekrutierung von Jungen als Kindersoldaten. Wer fliehen konnte, zog sich in das Gebirge zurück. Dort schützten zunächst weniger als ein Dutzend Guerillakämpfer der HPG den Eingang zum Gebirge und verhinderten das Eindringen der Dschihadisten.
Die PKK hatte bereits am 28. Juni 2014 nach einem Aufruf des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan ein zwölfköpfiges Vorabkommando zur Verteidigung von Şengal entsandt. Zwanzig Tage vor dem Massaker nahmen die Peschmerga drei Mitglieder der Gruppe und einen ezidischen Unterstützer fest. Die übrigen Guerillakämpfer zogen auf den Şengal-Berg und begannen mit der Organisierungsarbeit der Jugend. Als am 3. August der IS-Angriff begann, verteidigte eine neunköpfige Guerillagruppe die auf den Şengal-Berg geflohene Bevölkerung.
Die Guerillakämpfer hielten die westlich von Şengal verlaufende Straße von Sinûnê nach Dugirê und ließen keine Eroberung des Bergs durch den IS zu. Die ezidischen Jugendlichen zogen Kraft aus dem Guerillawiderstand und schlossen sich der Verteidigung des Berges an. Nachdem die neunköpfige Guerillagruppe ohne Essen und Trinken mehrere Tage gegen die Angriffe des IS Widerstand geleistet hatte, kamen ihnen am 6. August zwei Bataillone der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava zu Hilfe. Anschließend richteten die YPG/YPJ und die HPG einen Sicherheitskorridor ein, um die zu Hunderttausenden auf den Şengal-Berg geflohenen Ezid*innen nach Rojava zu evakuieren. Über diesen Korridor konnten mit der Zeit mehr als 200.000 Menschen nach Rojava gelangen. So konnte ein noch größeres Massaker verhindert werden. Die YPG/YPJ und HPG kämpften aufopferungsvoll und immer wieder auch unter Verlusten, um diesen „humanitären Korridor“ aufrechtzuerhalten. 100 Kämpferinnen und Kämpfer fielen beim Schutz der Evakuierung der Bevölkerung. Insgesamt wurden beim Şengal-Massaker etwa 300 Kämpfer*innen von YPG/YPJ und HPG durch den IS getötet.