Das von der irakischen Zentralregierung und der Leitung der Autonomieregion Südkurdistan getroffene Abkommen zur Zukunft des ezidischen Siedlungsgebiets Şengal stößt auf breite Ablehnung. ANF hat Menschen in Şengal zu ihrer Meinung nach dem über ihre Köpfe hinweg in Bagdad auf Druck der Türkei beschlossenen Abkommen gefragt.
Neam Bedel meint, dass die ganze Welt „taub und stumm“ angesichts des Schicksals der Ezidinnen und Eziden ist. Die Bevölkerung von Şengal sei nicht in das Abkommen einbezogen worden und lehne es ab. Bedel weist darauf hin, dass Şengal unter hohen Opfern vom IS befreit worden ist und von der kurdischen Jugend aus Ezidxan, dem „Land der Eziden“, verteidigt werde:
„Das Abkommen ist zwischen den Kräften beschlossen worden, die uns beim Angriff des IS dem Feind überlassen haben und geflohen sind. Sie haben uns verraten. Tausende ezidische Frauen sind auf Märkten verkauft worden. An uns ist ein Massaker verübt worden. Noch immer tauchen überall Menschenknochen auf. Die irakische Regierung hat bis heute nicht nach uns gefragt. Die Menschen, die in ihre Heimatorte zurückgekehrt sind, wurden kein einziges Mal gefragt, was sie brauchen. Die Kräfte, die sich für Şengal eingesetzt haben, für uns gefallen sind und in schweren Tagen an unserer Seite waren, können nicht ignoriert werden. Es sind die YBJ, YJŞ und der Asayîş, die uns beschützen. Andere Kräfte wollen wir hier nicht. Niemand kann mehr wie früher einfach über Şengal entscheiden. Wir werden die Kämpferinnen und Kämpfer der HPG, die für die Befreiung von Şengal gefallen sind, niemals vergessen.“
„Keine Gültigkeit für das ezidische Volk“
Das ezidische Volk erkenne das zwischen der PDK und der irakischen Regierung getroffene Abkommen nicht an, sagt Jinda Şengal, es sei außerhalb seines Willens entschieden worden und bedeute ein weiteres Massaker. Sie verweist darauf, dass immer noch Tausende ezidische Frauen vermisst werden. Wer 2014 die Bevölkerung im Stich gelassen und geflohen sei, müsse eine Selbstkritik ablegen und um Vergebung bitten, anstatt über die Köpfe der Menschen hinweg Entscheidungen zu treffen.
Der Beschluss habe daher keine Gültigkeit, so Jinda Şengal: „Sie haben uns am 3. August 2014 dem Feind überlassen und sind weggerannt. Jetzt wollen sie Şengal besetzen. In dieser Situation müssen wir uns noch besser organisieren und unsere Institutionen stärken. Mam Zekî Şengalî, Heval Zerdeşt, Heval Egîd und Hunderte Kämpferinnen und Kämpfer sind für Şengal gefallen. Sie haben die Bevölkerung aufgeklärt und eine Verteidigungskraft aufgebaut. Und wir folgen dem Weg der Gefallenen. Wir haben das Erbe des Widerstands angenommen, das sie uns hinterlassen haben.“
„Die Bevölkerung von Şengal lässt sich nicht mehr täuschen“
Auch Xwedêda Elyas betont, dass die „schmutzigen Pläne“ aus Bagdad und Hewlêr (Erbil) nicht akzeptiert werden: „Der Ferman von 2014 soll wiederholt werden. Das nehmen wir nicht hin. Die Eziden sind inzwischen ein freies Volk mit einem eigenen Willen und eigenen Verteidigungskräften. Sie werden sich nicht von anderen Parteien benutzen lassen. Seit sechs Jahren haben die irakische Regierung und der Barzanî-Clan nichts für das ezidische Volk getan. Wenn sie glauben, dass sie die Bevölkerung von Şengal mit ihren politischen Plänen täuschen können, irren sie sich. Wir haben für diese Region Blut vergossen und werden es nicht erlauben, dass ein derartig schmutziger Plan umgesetzt wird.“
Dawid Silêman sagt, dass die PDK und die irakische Regierung seit Jahren eine schmutzige Politik gegenüber dem ezidischen Volk anwenden: „Das akzeptieren wir nicht mehr. Früher waren wir nicht organisiert und haben nichts von Politik verstanden, aber seit 2014 haben wir viel dazugelernt. Dank der Guerilla haben wir uns organisiert und eigene Verteidigungskräfte aufgebaut. Wenn eine Entscheidung zu Şengal getroffen wird, kann das nur mit der Bevölkerung zusammen erfolgen. Alle Beschlüsse, die ohne das Volk gefasst werden, haben für uns keine Gültigkeit.“
Das Gleiche sagt auch Seydo Elî. Die Eziden seien beim IS-Angriff 2014 ihrem Schicksal überlassen worden. „Die PDK hat die Bevölkerung von Şengal verkauft, sie hat uns verraten“, meint Seydo Elî und betont, dass die Eziden keine Kräfte von außen wollen.
Hintergrund: Das Abkommen sechs Jahre nach dem Genozid und Femizid
Auf Wunsch der USA und der Türkei ist am 9. Oktober unter UN-Aufsicht in Bagdad ein Abkommen zwischen dem Irak und der südkurdischen PDK geschlossen worden. Das lange vorbereitete Abkommen sieht unter anderem vor, dass alle bewaffneten Einheiten in Şengal aufgelöst oder vertrieben werden.
Als der IS am 3. August 2014 in Şengal einrückte, zogen sich die rund 12.000 in der Region stationierten Peschmerga der südkurdischen Regierungspartei PDK ohne Vorwarnung zurück und überließen die dort lebenden Ezid*innen schutzlos dem IS. Für die ezidische Gemeinschaft begann die systematische Massakrierung, Vergewaltigung, Folterung, Vertreibung, Versklavung von Mädchen und Frauen sowie Zwangsrekrutierung von Jungen als Kindersoldaten. Wer fliehen konnte, zog sich in das Gebirge zurück. Dort schützten zunächst weniger als ein Dutzend Guerillakämpfer der HPG den Eingang zum Gebirge und verhinderten das Eindringen der Dschihadisten.
Die PKK hatte bereits am 28. Juni 2014 nach einem Aufruf des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan ein zwölfköpfiges Vorabkommando zur Verteidigung von Şengal entsandt. Zwanzig Tage vor dem Massaker nahmen die Peschmerga drei Mitglieder der Gruppe und einen ezidischen Unterstützer fest. Die übrigen Guerillakämpfer zogen ins Şengal-Gebirge und begannen mit der Organisierungsarbeit der Jugend. Als am 3. August der IS-Angriff begann, verteidigte eine neunköpfige Guerillagruppe die in die Berge geflohene Bevölkerung.
Die Guerillakämpfer hielten die westlich von Şengal verlaufende Straße von Sinûnê nach Dugirê und ließen keine Eroberung des Bergs durch den IS zu. Die ezidischen Jugendlichen zogen Kraft aus dem Guerillawiderstand und schlossen sich der Verteidigung des Berges an. Nachdem die neunköpfige Guerillagruppe ohne Essen und Trinken mehrere Tage gegen die Angriffe des IS Widerstand geleistet hatte, kamen ihnen weitere Guerillaeinheiten sowie zwei Bataillone der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava zu Hilfe. Anschließend richteten die YPG/YPJ und die HPG einen Sicherheitskorridor ein, um die zu Hunderttausenden ins Şengal-Gebirge geflohenen Ezid*innen nach Rojava zu evakuieren. Über diesen Korridor konnten mit der Zeit über 150.000 Menschen nach Rojava gelangen. So konnte ein noch größeres Massaker verhindert werden. Die YPG/YPJ und HPG kämpften aufopferungsvoll und immer wieder auch unter Verlusten, um diesen „humanitären Korridor“ aufrechtzuerhalten. 100 Kämpferinnen und Kämpfer fielen beim Schutz der Evakuierung der Bevölkerung. Insgesamt wurden beim Şengal-Massaker etwa 300 Kämpfer*innen von YPG/YPJ und HPG durch den IS getötet.
Aufgrund dieser Erfahrung wurden die YBJ und YJŞ als eigene Verteidigungskräfte für Şengal gegründet. Diese bewaffneten Einheiten bestehen überwiegend aus Ezidinnen und Eziden aus der Region, jedoch auch aus Araber*innen aus Şengal und Internationalist*innen aus der ganzen Welt. Die HPG-Guerilla erklärte nach dreieinhalb Jahren ihre Aufgabe für beendet und wurde aus Şengal abgezogen. Parallel zu den bewaffneten Einheiten ist in Şengal eine Selbstverwaltung ähnlich wie in Rojava aufgebaut worden.