Karayilan: Was dem IS nicht gelang, will die Türkei vollenden

Ähnlich wie in Rojava ist die PKK auch in Südkurdistan nur eine Ausrede für die Türkei, fremdes Territorium an das eigene Staatsgebiet einzuverleiben. Murat Karayilan (HPG) deutet darauf hin, dass neben Heftanîn auch Şengal annektiert werden soll.

Unter dem Vorwand der PKK-Präsenz führt die Türkei gegenwärtig eine Boden- und Luftinvasion in Südkurdistan durch. Angesichts der Standorte der türkischen Stützpunkte auf besetzten Gipfeln in den nördlichen Bergregionen in Südkurdistan sind die Grenzlinien des Misak-ı Millî jedoch klar zu erkennen. Dieser Nationalpakt sollte in den Verhandlungen mit den Siegermächten über das Osmanische Reich die neuen Grenzen des türkischen Staates nach dem Ersten Weltkrieg markieren - zum türkischen Territorium sollten neben Batumi und Thrakien auch die alten Provinzen Mossul (das heutige Südkurdistan bis zur kurdischen Stadt Silêmanî an der iranischen Grenze) und Aleppo (neben der Region Aleppo das gesamte Rojava/Nord- und Ostsyrien) gehören.

Ähnlich wie in Nordsyrien ist die PKK wieder nur eine Ausrede für die Erdoğan-Regierung, fremdes Territorium an das eigene Staatsgebiet einzuverleiben. Dass der türkische Staat eine 35 bis 40 Kilometer breite „Pufferzone“ errichten will und diese Besatzung keine vorübergehende sein soll, verheimlicht Ankara ohnehin nicht. Darauf machte auch der Oberkommandierende des Hauptquartiers der Volksverteidigungskräfte (HPG) Murat Karayilan, der zugleich Mitglied im Exekutivrat der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ist, jüngst in einer Sondersendung zu den aktuellen Entwicklungen in der Region beim Sender Stêrk TV aufmerksam (wir veröffentlichten bereits einige Ausschnitte aus dem Beitrag). Karayilan deutete zudem darauf hin, dass das ezidische Siedlungsgebiet Şengal gleichermaßen besetzt werden soll. Schon seit längerem bezeichnet Ankara sowohl Şengal als auch das unter UN-Schutz stehende Flüchtlingslager Mexmûr im gleichnamigen Distrikt südwestlich der Hauptstadt der südkurdischen Autonomieregion Hewlêr (Erbil) als „Militärcamp“ sowie „Rückzugsraum“ der PKK. Murat Karayilan äußerte: „Bei Mexmûr gibt es ein kleines Kontingent an Verteidigungskräften, das die lokale Bevölkerung vor IS-Angriffen beschützt. Erst vor wenigen Monaten hatte der IS Mexmûr angegriffen. Dabei waren zwei Dschihadisten getötet worden, ein Mitglied der Verteidigungskräfte kam ums Leben. Es handelt sich um eine kleine Einheit, die Mexmûr im Fall einer Bedrohung verteidigt. Das Kontingent stellt somit keine Kraft dar, die mit Flugzeugen bombardiert werden müsste.“

Keine PKK-Präsenz in Şengal

„In Şengal dagegen haben wir keine Kontingente. Es wird behauptet, die YBŞ seien identisch mit der PKK, das stimmt nicht. Vorher möchte ich noch anmerken, dass es nicht die PKK war, die die Peschmerga aus Şengal vertrieben hat. Das wird suggeriert, um die Angriffe zu legitimieren, es entspricht aber nicht den Fakten. Dieser Ansatz ist ebenfalls von Grund auf falsch. Was wäre in Şengal passiert, wenn wir nicht selbstlos interveniert hätten? Mindestens 100.000 Angehörige unseres ezidischen Volkes wären vermutlich massakriert, die Wurzeln des Ezidentums dem Boden entrissen worden. Wir verlangen nicht, dass man uns dafür zu Dank verpflichtet ist, schließlich ist es unser Volk, das wir beschützt haben. Im Übrigen taten wir diesen Schritt zu spät, wofür wir mit uns selbst sehr hart ins Gericht gehen. Es gibt jedoch einige Personen, darunter auch Eziden, die uns gegenüber trotzdem Verachtung zum Ausdruck bringen und uns feindlich gesinnt sind. Wenn wir nicht gewesen wären, würde es dort heute niemanden mehr geben. Wir haben 150.000 Menschen über einen freigekämpften Korridor nach Rojava geführt. Haben wir damit eine Sünde begangen? Es gibt ein Sprichwort; Ehre, wem Ehre gebührt.“

Wie hat die Peschmerga Şengal verlassen?

Als der IS im August 2014 in Şengal einfiel, zogen sich die dort stationierten Peschmerga der PDK-geführten Regierung in Hewlêr zurück und überließen die Eziden schutzlos dem IS. Wer fliehen konnte, suchte den Weg ins Gebirge. Dort schützten zunächst zwölf Kämpfer der PKK-Guerilla den Eingang zum Dschabal Şengal und verhinderten das Eindringen der Dschihadisten. Aus den Bergen an der türkisch-irakischen Grenze in Nordkurdistan und aus Rojava eilten drei Tage später weitere Guerillakämpfer und Mitglieder der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ mit schweren Waffen herbei. Über ihren eingerichteten Fluchtkorridor konnten bereits in den ersten Tagen des Genozids 50.000 Menschen nach Rojava gelangen.

„Nachdem wir in Şengal interveniert hatten, öffneten wir den Korridor später auch für die Peschmerga. 2017 ist das Unabhängigkeitsreferendum durchgeführt worden, in dessen Folge die irakische Armee auf Betreiben der Türkei in Kerkûk und Şengal aktiv wurde. Das in Şengal stationierte Peschmerga-Kommando suchte daraufhin das Gespräch mit unseren Freunden. Sie wollten ihre Stellungen in der Stadt aufgeben und zu unseren Freunden in die Berge gehen. Wir wurden darüber in Kenntnis gesetzt, unsere Antwort laute: ‚Okay, sollen sie gemeinsam die Stellungen halten. Wenn die irakische Armee anrückt, sollen sie ihnen einfach sagen, dass sie nicht gegen sie kämpfen, aber ihre Positionen halten wollen. Die Peschmerga traf dann auch tatsächlich bei unseren Freunden im Gebirge ein, um sich nur zwei Stunden später auf Anweisung der Peschmerga-Kommandantur mitten in der Nacht wieder in ihre Ausgangspositionen zurückzuziehen. Sie dankten uns und baten darum, die Region über den Korridor nach Rojava zu verlassen, weil die irakische Armee sich bereits bis Rabia vorgekämpft hatte. Wir meinten, lasst uns den nächsten Morgen abwarten und sprecht zunächst mit den Freunden von den YPG. Kurz danach hieß es, dass das irakische Militär den Peschmerga einen Weg freigemacht habe, über den sie Şengal schließlich verlassen haben.“

Guerilla zog sich 2018 zurück

Die Guerilla ist noch eine Weile geblieben, erläuterte Karayilan weiter. „Als die irakischen Truppen [in Şengal] eintrafen, sahen sie unsere Posten. Wir sagten: ‚Gegen euch kämpfen möchten wir nicht, aber unsere Positionen werden wir nicht aufgeben.‘ Dann gab es Verhandlungen auf der Grundlage des Dialogs – ein Krieg fand somit nicht zwischen uns statt. Ich will damit sagen, dass wir aus Şengal niemanden vertrieben haben. So spielte es sich im Oktober 2017 ab. Im April 2018 zogen wir dann unsere Kräfte aus Şengal ab, obwohl dies niemand von uns gefordert hatte. Wir stellten fest, dass wir dort nicht mehr gebraucht wurden. Der Irak war ja wieder vertreten und es existierten die YBŞ, die selbst für die Sicherheit und die Verteidigung ihrer Region sorgen konnten. Deshalb haben sich die HPG vollständig aus Şengal zurückgezogen. Niemand von uns ist geblieben.“

YBŞ-Kämpfer werden als angebliche PKK’ler zum Abschuss freigegeben

„Als sich [am 15. Januar 2020] ein tödlicher Luftangriff türkischer Kampfflugzeuge auf den YBŞ-Kommandanten Zerdeşt Şengalî, seinen Bruder Şervan Cîlo und seine Freunde Hemîd und Êzdîn ereignete, sind diese wertvollen Söhne Şengals gefallen. Aber nur eine Stunde nach dieser Tat äußerte eine Person namens Heydar Şeşo im TV, dass sich ein Angriff auf ein PKK-Quartier ereignet habe. Hand aufs Herz! Waren diese jungen Menschen keine Eziden? Warum bezichtigst du sie der PKK-Mitgliedschaft? Offenbar sind es diese Personen, welche die ‚Ziele‘ in die Schusslinie stellen. Indem alle jungen Menschen, die sich unter dem Dach der YBŞ organisieren als PKK’ler dargestellt werden, werden sie zum Abschuss freigegeben. Personen wie diesen fehlt es an einem Gewissen und Würde. Es gibt da auch einen ehemaligen Landrat, der ständig irgendwo von sich gibt, dass die PKK nach wie vor in Şengal vertreten sei und es aus diesem Grund ein Sicherheitsproblem gebe. Ich schlage vor, dass eine unabhängige Delegation sich vor Ort ein eigenes Bild der Lage macht.“

Eziden brauchen eigene Verteidigung, eigene Verwaltung und Autonomie

„In Şengal gibt es nur die YBŞ/YJŞ. Als wir am Anfang zwölf unserer Freunde dorthin schickten, lernten sie die Menschen kennen. Natürlich kannten wir zuvor bereits das ezidische Volk und auch die Jugend, die beim Ferman [Genozid] gemeinsam mit unseren Kämpfern Widerstand leisteten. Einer von ihnen war Zerdeşt, der andere Berxwedan. Er fiel damals im Kampf. Unter dem Eindruck des Krieges gründeten sie ihre eigene Organisation und nannten diese YBŞ. Wir haben sie dabei unterstützt, haben sie ausgebildet, weil wir wollten, dass sie ihre eigene Kraft bilden. Für uns zählt nur eine Sache: das Volk in Şengal sollte als organisierte Gesellschaft selbst für seine Verteidigung und seine Verwaltung sorgen und einen autonomen Status innehaben. In diesem Sinne stehen wir dem ezidischen Volk und Şengal stets bei. Mindestens 73 Genozide hat dieses Volk erleiden müssen, ganz gleich wo es Eziden gibt, werden wir ihnen zur Seite stehen. Das ist eine Frage der Mentalität, hat aber nicht zu bedeutet, dass alle Eziden Mitglieder unserer Partei sind.“

YBŞ werden absichtlich zur Zielscheibe erklärt

„Heute gibt es zehntausende, hunderttausende arabische Menschen, die sich die Ideen von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] aneignen. Wir wissen von entschlossenen Apoisten in Bagdad und Basra. In Argentinien gibt es Apoisten und apoistische Jugendbewegungen, die sich organisieren. Ebenso existieren sie auch in Pakistan. Rêber Apo hat der Menschheit ein neues Paradigma, eine Alternative gewidmet. Er hat eine eigene Philosophie, aber nicht jeder, der seine Ansichten teilt, ist ein PKK’ler. Solche Kreise, welche die YBŞ in den Ruf als angebliche PKK’ler bringen, geben die ezidische Jugend Şengals bewusst zum Abschuss frei. Es sind Personen, die nicht möchten, dass das ezidische Volk sich selbst verteidigt und verwaltet. Mittlerweile haben die Eziden anlehnend an die Perspektive einer demokratischen Nation freundschaftliche Beziehungen mit dem arabischen Volk entwickelt. Viele bedeutende arabische Revolutionäre haben sich den Reihen der YBŞ angeschlossen und somit dazu beigetragen, dass die Widerstandseinheiten wachsen und stärker werden. Das bereitet Unbehagen bei gewissen Leuten.“

Einige Kurden lassen sich instrumentalisieren

„Wir hatten einige ezidische Mitglieder aus Armenien und Russland. Einige von ihnen haben acht Jahre, andere sogar zehn Jahre im Zagros-Gebirge und in Botan in unseren Reihen gekämpft. Als sich das letzte Ferman ereignete, wollten sie dem Genozid entgegenwirken und äußerten den Wunsch, an der Verteidigung ihres Volkes teilzunehmen. Einige von ihnen sind heute Kommandanten der YBŞ. Das ist zwar allgemein bekannt, dennoch möchte ich jetzt keine Namen nennen. Wenn es unbedingt sein muss, kann ich es allerdings tun. Die Namen dieser Personen, die jedermann kennt, tauchen nun auf gewissen Listen [„Terrorlisten“ der türkischen Regierung] auf. Auf diese Weise wurde bereits Zekî Şengalî ermordet, nun sollen auch diese Freunde dasselbe Schicksal erleiden. Werden die YBŞ denn von der Bildfläche verschwinden, wenn diese Personen nicht mehr unter uns verweilen? Sie mögen ehemalige PKK’ler sein, jetzt aber sind sie YBŞ’ler.

Der türkische Staat hat sich in Başika bereits festgesetzt. Şengal wird ganz offen als Ziel anvisiert. Im Prinzip wollten sie Şengal über die IS-Option zerschlagen, weil sie die Region innerhalb der Grenzen des Misak-ı Millî sehen. Leider gibt es einige Kurden, die sich für die Politik des faschistischen türkischen Staates instrumentalisieren lassen. Ich hoffe für sie, dass sie diesen Plan bald begreifen und ihm die kalte Schulter zeigen. Sie sollen davon absehen, das ezidische Volk in Şengal und seine autonomen Strukturen anzugreifen.“

Was dem IS nicht gelang, will der türkische Staat vollenden

„Ein weiteres brisantes Detail ist, dass mit Şengal und Mexmûr nun die Orte von den Flugzeugen des türkischen Staates ins Visier genommen werden, die der IS durch einen Genozid vernichten wollte. Das Ziel ist dasselbe. Hier wird nochmal deutlich, dass der türkische Staat durch die Hand des IS zuerst Şengal, dann Mexmûr und anschließend die gesamte Region Südkurdistan und ihr föderales System zerschlagen wollte. Aber der IS wurde besiegt, daher gelang dieser Plan nicht. Jetzt setzt die Türkei ihn selbst um. Das ist die Realität. Und noch ein kleiner Hinweis: Als der IS den Süden angriff, bat die Regionalregierung, insbesondere die PDK, die Türkei um Unterstützung. Die erhoffte Hilfe blieb der PDK aber verwehrt.“