Murat Karayilan, Kommandant des Hauptquartiers der Volksverteidigungskräfte, hat sich am Sonntagabend in einer Sondersendung bei Stêrk TV zu den aktuellen Entwicklungen in Kurdistan geäußert. Wir veröffentlichen einige Ausschnitte aus dem Beitrag.
Strategischer Vernichtungsplan
Der kurdische Befreiungskampf ist in eine neue Phase eingetreten. Diese Phase muss in allen Teilen Kurdistans richtig verstanden werden. Der türkische Staat greift den Befreiungskampf Kurdistans und den Status des gesamten kurdischen Volkes an. Dieser sehr umfassende und strategische Angriff hat das Ziel, einen Genozid am kurdischen Volk zu verüben. Der in Süd- und Westkurdistan erreichte Status und die überall erkämpften Errungenschaften des kurdischen Volkes sollen zerschlagen werden. Es soll verhindert werden, dass die Kurden eine eigene Identität haben. Das ist das Hauptziel dieser Strategie, die mehrere taktische Etappen vorsieht. Wir sind mit einer neuen Situation konfrontiert.
Neoosmanische Expansion als Geheimstrategie
Der türkische Staat sagt, dass es sich bei der Heftanîn-Operation um eine der größen Operationen der letzten Jahre handelt. Einige Ziele hat er veröffentlicht, aber nicht alle. Es gibt auch eine verdeckte Strategie. Wir sprechen ständig davon und auch andere reden darüber. Diese verdeckte Strategie betrifft die Besatzung des osmanischen „Misak-i Milli“-Gebiets. Dazu werden nur die taktischen Dimensionen öffentlich gemacht. Und was zeigt sich gerade? Die Politik Südkurdistans wird unter Druck gesetzt, eine innerkurdische Einheit soll verhindert werden. Die kurdischen Kräfte sollen benutzt werden, in dem sie gegeneinander aufgehetzt werden. Rojava und der Süden, der Süden und der Norden sollen gegeneinander aufgebracht werden, um eine Einheit zu verhindern. Das ist eines der offensichtlich gewordenen Ziele.
Von der Pufferzone zur Besatzung der Region
Was sind die weiteren Ziele? Der türkische Staat will nach eigenen Angaben in Südkurdistan eine 35 bis 40 Kilometer breite „Pufferzone“ errichten. Das ist im Vorfeld erklärt worden, aber es ist nicht die Gesamtstrategie. Heftanîn soll besetzt werden, aber das ist nur der Beginn der geplanten Operation. Die Besatzung des Lêlikan in Xakurke im vergangenen Jahr war die Vorbereitung dafür. Jetzt soll Heftanîn am anderen Ende Südkurdistans eingenommen werden. Anschließend sollen beide Gebiete miteinander verbunden werden, von Derkar über Batufa, Bamernê, Kanîmasî bis nach Amêdî, Dêrelok, Şîladizê und Sidekan. Das ist das Ziel, das ganz offen benannt wird. Dieses Gebiet soll besetzt werden. Der türkische Staat behauptet auch gar nicht, dass es eine vorübergehende Besatzung sein soll. In allen besetzten Gebieten werden Straßen gebaut und ein eigenes System installiert, die Besatzung wird damit zum Dauerzustand gemacht.
Wie verhält sich die südkurdische Regierung?
An diesem Punkt ist wichtig, wie die umliegenden Kräfte reagieren. Der Irak hat ein bisschen Haltung gezeigt, der türkische Botschafter wurde einbestellt und es wurde eine Erklärung abgegeben. Offenbar hat sich der Irak auch bei den Vereinten Nationen über die Türkei beschwert. Auch Saudi-Arabien, Ägypten und die Arabische Liga haben Erklärungen abgegeben, aber die Meinung der in der Region herrschenden internationalen Mächte ist immer noch unbekannt. Was die USA dazu sagen, ist weiterhin unklar. Kann die Türkei ohne ihre Kenntnis vorgehen? Das ist ein wichtiges Thema. Aber nicht nur die USA, vor allem die Meinung der südkurdischen Regierung ist Gegenstand des allgemeinen Interesses. Wie verhält sich die Regierung der Autonomieregion Kurdistan zu dem türkischen Plan, eine Pufferzone zu errichten und einen Teil Südkurdistans zu besetzen?
Es geht nicht um die PKK
Die Zeit der Zusammenarbeit mit der Türkei ist endgültig vorbei, denn der türkische Staat führt einen Angriff nach dem nächsten durch. Niemand sollte darauf hereinfallen, dass die PKK als Begründung herangezogen wird. Als im vergangenen Jahr die Invasion in Serêkaniyê [Ras al-Ain, Nordsyrien] stattfand, behauptete Neçirvan Barzani, dass die Türkei kein Problem mit den Kurden habe, sondern lediglich mit der PKK. Dazu möchte ich Herrn Barzani folgendes sagen: Bitteschön, fahren Sie nach Serêkaniyê und schauen sich um, wie geht es den Kurden? Gibt es dort noch Kurden oder nicht? Ist ihr gesamter Besitz geplündert worden oder nicht? Ist ihre Ehre verletzt worden oder nicht? Sind in ihren Häusern nicht Dschihadisten aus Ghouta oder sonst woher untergebracht worden? Und wie geht es den Kurden in Efrîn? Dort findet ein Völkermord statt, alle Kurden sind vertrieben worden, ihr Eigentum wurde beschlagnahmt. Das gleiche geschieht in Serêkaniyê.
Widerstand und verbrannte Erde in Heftanîn
Bei der Operation in Heftanîn handelt es sich um den Beginn einer umfassenden Strategie. Seit Tagen findet dort ein heftiger Krieg statt. Unsere Freundinnen und Freunde leisten heldenhaften Widerstand. Der türkische Staat setzt alle technologischen Mittel ein. Mit Haubitzen, Kampfjets, Aufklärungsdrohnen und Cobra-Hubschraubern soll jeder Ort zerstört werden. Bereits jetzt ist Heftanîn so intensiv bombardiert worden, dass es überall brennt. In drei Gebieten finden Kämpfe statt. Vor Beginn der Operation sind unsere drei Weggefährten Şahin, Çiya und Tolhildan in der Nähe des Dorfes Keşan gefallen, weil sie von Kollaborateuren denunziert worden sind. Im Verlauf der Operation sind unsere Freunde Mazlum und Egîd gefallen. Zu einer vierköpfigen Gruppe ist die Verbindung abgebrochen. Es finden weiterhin Gefechte statt und wir wissen nicht, wie sie ausgehen werden.
Was der IS nicht geschafft hat
Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt aufmerksam machen: Der IS hat in Şengal einen Völkermord verübt und wollte dasselbe Massaker auch in Mexmûr anrichten. Diese Orte werden jetzt von der türkischen Luftwaffe bombardiert. Das Ziel ist dasselbe. Der türkische Staat wollte zuerst über den IS Şengal, Mexmûr und darüber den gesamten Süden und das föderale System Südkurdistan zerstören. Der IS ist jedoch besiegt worden und konnte dieses Ziel nicht umsetzen. Deshalb tut es der türkische Staat jetzt selbst.
Militante Aktionen in der Türkei
In Nordkurdistan finden Aktionen statt. Sowohl die Guerilla macht Aktionen, als auch die Selbstverteidigungseinheiten. Das ist gut. Es zeigt, dass die türkische Propaganda falsch ist. Das faschistische AKP/MHP-Regime führt einen sehr umfassenden psychologischen Krieg. Die Aktionen der Selbstverteidigungseinheiten gegen Agenten, Kollaborateure und die Wirtschaft des Feindes in Kurdistan und den Metropolen der Türkei sind nicht schlecht, aber das reicht nicht. Es müssen mehr werden.
Niemand sollte im Kriegsgebiet Urlaub machen
Zwischen dem türkischen Staat und uns findet ein umfassender Krieg statt. Unser Volk ist von Staatsterror betroffen. Wir möchten in dieser Zeit nicht, dass Menschen aus Europa und Russland als Touristen in die Türkei kommen. Sie sollen beachten, dass der türkische Staat eine Völkermordpolitik gegen das Volk Kurdistans betreibt. Das Geld, das Touristen in der Türkei ausgeben, wird zu einer gegen das kurdische Volk gerichteten Kugel. Deshalb sollen sie nicht in die Türkei kommen. Falls sie es doch tun und Schaden erleiden, sind wir nicht dafür verantwortlich. Ich sage nicht, dass wir sie angreifen werden, aber hier findet ein Krieg statt. Wenn sie ins Kriegsgebiet kommen und Schaden davontragen, können wir nicht die Verantwortung übernehmen. Ohnehin gibt es gerade das Coronavirus und es kommt niemand, aber selbst wenn sich Lage beruhigt, sollte niemand kommen. Dieser Staat führt Krieg gegen unser Volk und wir leisten legitimen Widerstand dagegen.