Hüseyin Dicle aus der Leitung der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) hat sich im ANF-Interview zu dem strategischen Vernichtungsfeldzug des türkischen Staates gegen das kurdische Volk und seine Organisationen geäußert. Angesichts der zunehmenden Aggressivität des AKP/MHP-Regimes muss ein breiter Widerstand auf allen Ebenen geleistet werden.
AKP und MHP wirkten früher sehr widersprüchlich zueinander. Warum sind sie heute zusammen und warum zeigen sie eine derartig faschistische Aggressivität?
Die faschistische Koalition aus AKP und MHP setzt ihre Angriffe auf die Kurden, die kurdische Existenz und die gesamte organisierte Struktur fort. Das hat sie sich als strategisches Ziel vorgenommen und darauf baut der Faschismus in der Türkei im Wesentlichen auf. Die Kurden sollen als Volk, als Gesellschaft, als organisierte Kraft und als ein Willen vernichtet werden. Das ist bei den letzten Angriffen noch deutlicher geworden. Es geht nicht nur um die PKK, es geht um die Existenz der Kurden. Mit der Kolonialisierung Kurdistans und dem Genozid am kurdischen Volk hat sich das System in der Türkei zunehmend in Richtung Faschismus gewandelt. Darauf baut die AKP-MHP-Ergenekon-Koalition auf und darüber soll sie fortgesetzt werden.
Man muss diese Angelegenheit im historischen Kontext betrachten. Die Türkei ist als Kolonialstaat errichtet worden und wird von internationalen Hegemonialkräften protegiert. Diese beiden Besonderheiten halten den Faschismus aufrecht. Was AKP und MHP zusammenbringt, ist ihre gemeinsame Feindlichkeit den Kurden gegenüber. Damit sich die aktuelle Situation im Mittleren Osten nicht zum Vorteil der Kurden entwickelt, bemühen sie sich um eine Aktualisierung der kolonialistischen Ordnung und darüber um eine Reintegration in die kapitalistische Moderne, das imperialistische System und dessen Interessen in Kurdistan. Aus diesem Grund werden sie zunehmend aggressiver.
Gegen den AKP/MHP-Faschismus und seine mörderische Aggression findet ein von der PKK angeführter Widerstand statt. Wie beurteilen Sie die Reaktionen und Aktionen im Bereich der demokratischen Politik und in der Gesellschaft?
Es findet ein Kampf statt. Im Bereich der demokratischen Politik, auf den Straßen und überall wird gekämpft. Unsere Bewegung führt diesen Kampf ja ohnehin und hat sich immer positioniert. Die Guerilla leistet Widerstand. Auch in der Gesellschaft regt sich Widerstand, aber der Faschismus ist weiterhin allgegenwärtig und greift an. Also muss diese Haltung verstärkt werden, Antifaschismus muss in den Köpfen verankert werden. Es wird ein sehr spezieller Krieg geführt, in dem die Wahrheit verdreht wird. Dieser Einfluss muss gebrochen werden, es muss Klarheit herrschen.
Im AKP/MHP-Faschismus ist der strategische Beschluss gefasst worden, die kurdische Existenz gänzlich vom Erdboden verschwinden zu lassen. Das bestätigen die heftigen Angriffe auf allen Ebenen. Gewählten Abgeordneten wird das Mandat entzogen, Rathäuser werden zwangsverwaltet, Politikerinnen und Politiker werden ins Gefängnis gesteckt, Folter ist in und außerhalb der Gefängnisse zur Routine geworden.
Was kann dagegen getan werden?
Es muss eine ständige Aktivität stattfinden, die diese Angriffe ins Leere laufen lässt. Es gibt Reaktionen im politischen Bereich, innerhalb der Gesellschaft und auf der Straße, aber das Ziel muss es sein, das faschistische Regime direkt zu zerschlagen. Solange das nicht stattfindet und nur mit berechenbaren Protesten auf die Angriffe reagiert wird, kommt man nicht gegen den Faschismus an.
Die Gesellschaft hat bei den Parlaments- und Kommunalwahlen reagiert. Das kurdische und eigentlich auch die anderen Völker der Türkei wollen keinen Faschismus. Das kann auch gar nicht sein, weil der Faschismus Feind des Volkes, der Gesellschaft und der Menschheit ist. Es gibt nichts, was dieses System der Menschheit geben könnte.
Um diese existenziell bedrohliche Gefahr abwenden zu können, muss es organisierte Aktivitäten geben. Dafür ist eine Vernetzung notwendig und dieser Prozess muss angeführt werden. Die Führungsrolle fällt in den Bereich der demokratischen Politik, aber auch der Jugend und den Frauen zu. Letztendlich ist die Haltung der Völker ausschlaggebend.
Der Faschismus zeigt sich immer unverhüllter. Es ist immer deutlicher geworden, dass AKP und MHP nicht weiter getan haben und tun werden, als den kurdischen Genozid zu vervollständigen. Das ist ihr strategisches Ziel.
Die Jugend und alle anderen führenden Gruppen müssen beweglicher und aktiver werden. Es hat sich ein gewisser Widerstand entwickelt, aber er muss sich weiter ausbreiten. Dieser Widerstand ist effektiv und führt zu Ergebnissen. Er bringt den Faschismus der AKP und MHP in Bedrängnis und wird auch sein Ende herbeiführen. Die Jugend muss ihre Rolle besser spielen. Beispielsweise macht die Initiative „Kinder des Feuers“ wichtige Aktionen, die eine Bedeutung haben. Solche Aktionen müssen noch viel mehr stattfinden, sie müssen sich überall verbreiten. Alle Jugendlichen, die in der Türkei und Bakur [Nordkurdistan] leben, müssen Kinder des Feuers sein. Es müssen überall Feuer sein, der Widerstand muss erweitert werden. Widerstand ist eine legitime Haltung gegen Faschismus. Ohne Widerstand lässt das System nicht zu, dass ein einziger Mensch auf die Straße geht, zwei Menschen zusammenkommen und demokratische Proteste entstehen. In einem Polizeistaat kann ohne Widerstand keine konstruktive Entwicklung stattfinden. Wenn Widerstand nicht die grundsätzliche Haltung bei Straßenaktionen ist, entsteht nicht die notwendige Stärke, um Ergebnisse herbeizuführen. Aus diesem Grund müssen diese Widerstandsaktionen ausgeweitet werden. Auch YPS und YPS-Jin machen Aktionen. Es müssen mehr werden.
Die Guerilla leistet überall Widerstand, aber uns muss klar sein, dass die faschistische Aggression und der Kolonialismus nur besiegt werden, wenn die gesamte Gesellschaft Widerstand leistet. Nur mit Guerillaaktionen lässt sich das nicht bewerkstelligen. Es ist sehr wichtig, dass überall gekämpft wird. Der Widerstand muss sich in der Gesellschaft ausbreiten, die Jugendlichen müssen sich stärker daran beteiligen, alle müssen diese Aktionen weiterentwickeln. Was den Faschismus grundsätzlich schwächt, sind strategische Aktionen. Das ist die strategische Dimension der aktuellen Phase und sollte von allen verstanden werden. Die strategische Arbeit dieser Zeit ist der Widerstand. Alles andere führt zu keinen Ergebnissen. Es führt nur zu noch größerem Druck durch das System, es werden noch mehr Menschen verhaftet und zum Schweigen gebracht. Das sollte allen bewusst sein.
Haben Sie eine Botschaft oder einen Aufruf an das kurdische Volk und demokratische Kreise, die die Widerstandslinie gegen den AKP/MHP-Faschismus verteidigen?
Es muss mehr Einsatz für den Kampf der Kurdinnen und Kurden stattfinden. Kurdische Jugendliche, die kurdische Musik hören, werden ermordet. Das muss ins Bewusstsein gerückt werden. Man muss überall gegen Rassismus eintreten. Ich lade alle dazu ein, sich noch stärker und eindeutiger gegen Faschismus zu positionieren, sich noch mehr dem Widerstand zu widmen und noch mutiger zu sein. Ich rufe dazu auf, sich mit der Isolation von Rêber Apo [Abdullah Öcalan] auseinanderzusetzen und darauf zu reagieren. Vor allem die Jugend, die kurdischen Jugendlichen, rufe ich dazu auf, ihren Widerstand auszubauen und damit dem Folter- und Isolationsregime auf Imrali einen Schlag zu versetzen und es ins Leere laufen zu lassen.