Mit 53 Prozent der Stimmen war Leyla Atsak, die für die HDP kandidierte, im März 2019 in Ebex (tr. Çaldıran) als Siegerin aus der Kommunal hervorgegangen. Doch das Amt der Ko-Bürgermeisterin der Kreisstadt im Nordosten der Provinz Wan konnte die studierte Soziologin nicht wahrnehmen. Der Hohe Wahlrat (YSK) verweigerte ihr die Anerkennung. Grundlage dafür war ein sogenanntes KHK, das für „Kanun Hükmünde Kararname“, zu Deutsch „Notstandsdekret mit Gesetzeskraft“ steht. Der Erlass war nach dem Pseudoputsch 2016 eingeführt worden und machte Massenentlassungen von Staatsbediensteten möglich, die Verbindungen zu „illegalen Organisationen“ gehabt haben sollen. Am Ende der von Erdoğan angeordneten Säuberungswelle waren weit mehr als 120.000 Menschen ihren Job los.
Leyla Atsak war eines der KHK-Opfer. Als sie 2019 trotz gewonnener Wahl nicht ins Rathaus einziehen konnte, wurde der unterlegene Kandidat der Regierungspartei AKP Bürgermeister. Gleiches Szenario spielte sich auch in fünf anderen Kommunen ab, die von der HDP gewonnen worden waren. Seltsam an der Entscheidung war aber nicht nur, dass der YSK im Vorfeld keine Bedenken gegen sie geäußert hatte und sogar bescheinigte, dass ihrer Bewerbung nichts im Wege stehe. Kandidierende anderer Parteien, die ebenfalls per Dekret entlassen worden waren oder sogar einen Eintrag im Vorstrafenregister hatten, blieben ungeschoren.
Leyla Atsak (c) privat
Im August 2019 holte Ankara schließlich zum totalen Schlag gegen die kurdische Kommunalpolitik aus: dutzende demokratisch gewählte Bürgermeisterinnen und Bürgermeister der HDP wurden unter vage formulierten Terrorvorwürfen abgesetzt und verhaftet. An ihrer Stelle zogen Zwangsverwalter in die Rathäuser ein, die in der Folge nicht nur quasi in Garnisonen verwandelt wurden, sondern auch zu Zentren der Korruption und des Diebstahls gemacht worden sind. Die demokratisch-kurdische Opposition bezeichnet diesen Zustand als „Treuhandregime“.
Nun stehen im März erneut Kommunalwahlen in der Türkei an. Leyla Atsak, die inzwischen zur DEM gehört, die aus der HDP hervorgegangen ist, hat als Verantwortliche ihrer Partei die Vorwahlen in zwei Bezirken von Wan mitorganisiert. Im ANF-Interview schilderte die 30-Jährige ihre Eindrücke: „Wer glaubt, die Bevölkerung würde keinen Sinn darin sehen, bei der Wahl ihre Stimme abzugeben, weil sich das Zwangsverwalter-Regime wieder durchsetzen könnte, irrt sich. Die Menschen hier lassen sich nicht demoralisieren, im Gegenteil. Sie verteidigen ihren politischen Willen.“
Obwohl Sie 2019 als Siegerin aus der Kommunalwahl in Ebex hervorgingen, zog der unterlegene AKP-Kandidat im Rathaus ein. Was können Sie rückblickend über die damaligen Entwicklungen erzählen?
Der Wille des Volkes wurde missachtet und mir wurde verweigert, meine Aufgaben als Bürgermeisterin wahrzunehmen. Wie heute waren wir auch damals in Vorwahlen gegangen. Ich wurde als Kandidatin für die weibliche Hälfte in der genderparitätischen Doppelspitze des Bürgermeisteramts verpflichtet, weil ich im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten hatte. Einige Jahre zuvor hatte ich noch als Beamtin gearbeitet, bis ich 2017 per Dekret aus dem Staatsdienst entlassen wurde. Trotzdem hatte der YSK mich und andere Bewerber mit einem ähnlichen Eintrag in ihrer Vita nicht ausgeschlossen. Doch kaum hatten wir die Wahl gewonnen, kam die Drehung um 180 Grad. Und genau da liegt der Rechtsbruch. In einem einmaligen demokratischen Prozess hatten wir eine Vorabstimmung organisiert, wurden als Kandidierende gewählt und gingen haushoch aus der Kommunalwahl hervor. Erst gab der Staat seine Zustimmung, nur um uns später als Kriminelle einzustufen und die Anerkennung der Wahl zu verweigern. Ebex war bereits im Zuge des Putschs gegen die Kommunalpolitik nach der Wahl von 2014 unter das Joch der Zwangsverwaltung geraten. Nach zweieinhalb Jahren Treuhandregime befreiten sich die Menschen zwar durch unsere Wahl. Doch ihren politischen Willen repräsentiert der Bürgermeister, der im Grunde nichts anderes als ein Zwangsverwalter ist, nicht.
Wie betrachtet die Bevölkerung diese Situation?
Die Bürgerinnen und Bürger betrachten das als Unrecht, als Unterdrückung. Das ist es auch. Bevor ich gewählt wurde, wollten die wenigsten die Tür zum Rathaus öffnen. Die Menschen wählten unsere Partei, um den Zwangsverwalter loszuwerden. Wir haben gesagt, dass wir in den Kommunen in den Diensten des Volkes arbeiten werden. Die Repressalien und die Drohungen haben weder damals noch heute aufgehört.
Wie reagieren die Menschen darauf?
In der Provinz Wan und insbesondere in einem Bezirk wie Ebex wird der Bevölkerung ganz offen gesagt: „Wir erkennen euch nicht an, eure Stimmen sind null und nichtig.“ Ebex ist meine Geburtsstadt und ich stehe ständig in Kontakt mit den Menschen hier. Ich sehe aber auch ganz klar, dass diese Situation trotz aller Widrigkeiten nicht zu einer Demoralisierung oder einer Haltung führt, dass die Menschen meinen, wählen zu gehen würde keinen Sinn machen, da die Zwangsverwaltung ohnehin aufrechterhalten wird. Im Gegenteil, sie sehen diesen Prozess als Teil eines historischen Kampfes, als erneute Konfrontation mit der Wirklichkeit des Staates. Ich sage das nicht als Parole, die Wahlergebnisse bestätigen dies. 2019 hatten wir schließlich Kommunen gewonnen, in denen jahrelang Zwangsverwalter herrschten. Das Volk hatte seinen Willen an den Wahlurnen zum Ausdruck gebracht. Wir mögen unser Amt nicht ausgeübt haben, aber unsere Bürgerinnen und Bürger haben uns stets beigestanden.
Wie ging die Arbeit nach der Ernennung des AKP-Kandidaten zum Bürgermeister weiter?
Ich habe im Provinzvorstand unserer Partei mitgewirkt. Ich habe diese Situation von Anfang an nicht als eine persönliche betrachtet. Meine Entlassung war ebenso unrechtmäßig, wie die Ernennung eines unterlegenen Kandidaten an meiner Stelle, trotz meiner Wahl zur Bürgermeisterin. Diese Vorwürfe treffen mich in keinem Punkt als Individuum. Wäre dies der Fall gewesen, wäre ich nicht in unserer Partei geblieben. Dies ist ein Kampf des Volkes. Er ist die Geschichte des Landes, auf dem wir stehen. Der Widerstand und die Leidenschaft des Volkes haben mir Hoffnung gegeben. „Alles ist vorbei“ – solche Sätze kennen wir nicht. Solche Worte wird man aus unseren Mündern zu keinem Zeitpunkt hören können.
Wie wirkte sich Ihre verweigerte Anerkennung auf das zivilgesellschaftliche Leben in Ebex aus?
Der an meiner Stelle ins Rathaus gezogene Politiker war der Kandidat der herrschenden AKP. Er stammt ebenfalls hier aus Ebex. Für ihn war es völlig normal, trotz verlorener Wahl auf dem Sessel Platz zu nehmen und zu regieren. Bei ernannten Bürgermeistern – wir nennen sie ebenfalls Zwangsverwalter – ist es nicht möglich, Sensibilität gegenüber Frauen, der Natur, Menschen und Tieren zu erkennen. Nicht mal im Geringsten. Empathiebewusstsein hätte konsequenterweise dazu geführt, die verordnete Aufgabe als Bürgermeister nicht zu übernehmen. Dass er zu Unrecht im Amt ist, bekommt er bis heute von der Bevölkerung zu hören. Ebex war ohnehin ein stark vernachlässigter Grenzbezirk. Die einzigen Nachrichten, die aus der Stadt drangen, drehten sich um Schutzsuchende, die festgenommen wurden, oder um die „Hexenjagd“ auf HDP-Mitglieder. Die Bevölkerung ist aufgrund der allgegenwärtigen Repression wie gelähmt, im Besonderen in Zeiten, in denen die Zivilgesellschaft am meisten gebraucht wird. Hinzu kommt eine schwere Wirtschaftskrise, die die Bevölkerung zusätzlich belastet.
Was hat der Zwangsverwalter in dieser Zeit getan?
Er hat das Rathaus in einen Familienbetrieb verwandelt. Die Zahl seiner Verwandten, die nicht in die Stadtverwaltung geholt wurden, wird wohl im einstelligen Bereich liegen. Der Mann dient nicht dem Volk, sondern seinem Privatinteresse. Dazu gehört auch, Fotos zu verbreiten, die ihn mit dem ehemaligen Innenminister Süleyman Soylu zeigen.
Sie waren für die Vorwahlen der DEM-Partei zuständig. Wie war die Atmosphäre?
Es gab viel Arbeit und viel Begeisterung. Ich war für die Vorwahlen in Ebex sowie in Bêraqdar bei Erzîrom zuständig. In Bêraqdar wurden zum ersten Mal Vorwahlen abgehalten. Es war großartig, die Begeisterung der Menschen im Wahllokal zu sehen. Die Vorwahlen dauerten einen ganzen Tag. Die Menschen warteten bis Mitternacht auf die Ergebnisse. Das Volk selbst spiegelte sich im Ergebnis wider. Alle Delegierten von damals sind gekommen und sogar noch mehr. Niemand hat gefehlt. Gemeinsam die Verwaltung zu organisieren, gibt den Menschen immer Hoffnung. Das ist der Aufbau einer demokratischen Zukunft.
Wollen Sie noch etwas abschließend anmerken?
Wir treten zu den Wahlen mit der DEM-Partei an. Man wollte die Menschen verwirren, aber unsere Wählerinnen und Wähler haben diesen Namen sofort angenommen. Ihnen ist auch klar, dass es wieder manipulierte Wählerverzeichnisse geben wird. Die Regierung will eben die Zwangsverwaltung nicht aufgeben. Das ist eine neue Ära für uns. Die Methode der gefälschten Wählerverzeichnisse hat sich mittlerweile auf die gesamte Serhed-Region ausgedehnt. Konkret bedeutet das, dass zum wiederholten Mal keine demokratische Wahl abgehalten werden wird. Es wird wieder Betrug und Stimmenraub geben, aber das wird uns nicht aufhalten und unseren Willen nicht brechen.