Die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) hat anlässlich des siebten Jahrestags des Genozids der Terrormiliz „Islamischer Staat” (IS) an den Ezidinnen und Eziden ihre Forderung nach Anerkennung eines Autonomiestatus für Şengal bekräftigt. Nur durch einen autonomen Status und damit der Anerkennung der Selbstverteidigungskräfte könne die Existenz des ezidischen Volkes bewahrt werden, erklärt der KCK-Exekutivrat und gedenkt aller Genozid-Opfer mit Liebe und Respekt. Zudem erneuert der Dachverband der kurdischen Freiheitsbewegung sein Versprechen, die entführten Frauen und Mädchen zu befreien.
Am 3. August 2014 begann mit dem IS-Überfall auf das ezidische Hauptsiedlungsgebiet Şengal der letzte Genozid an den Ezidinnen und Eziden. Wer sich an dem heißen Sommertag retten konnte, flüchtete in die Berge. Auf dem Weg dorthin verdursteten unzählige Kinder und ältere Menschen. Männer, die es nicht mehr wegschafften, wurden bestialisch ermordet. Etwa 7.000 ezidische Frauen und Mädchen wurden entführt und auf Sklavenmärkten verkauft, misshandelt und vergewaltigt. Verschleppte Jungen wurden zu Selbstmordattentätern ausgebildet. Mindestens 10.000 Menschen wurden Schätzungen nach getötet, über 400.000 aus ihrer Heimat vertrieben. Rund 2.700 bis 2.800 ezidische Frauen, Männer und Kinder werden bis heute vermisst.
Der Ferman vor sieben Jahren, wie die Ezidinnen und Eziden die Verfolgungswellen gegen ihre Gemeinschaft bezeichnen, führte damals nicht nur zu einer humanitären Katastrophe, sondern hatte zum Ziel, das ezidische Volk auszulöschen. Als Mittel dazu richtete sich der Angriff systematisch gegen Frauen. Daher stellt dieser Genozid in seiner Form zugleich auch einen Feminizid dar.
Zwölfköpfiges Vorabkommando zur Verteidigung von Şengal
„Der Genozid vom 3. August 2014 an den Ezid:innen wurde vom IS verübt. Doch jene Kräfte, die für den Schutz dieser Gemeinschaft verantwortlich waren, haben sich dem Überfall auf Şengal durch Flucht entzogen und den Völkermord mit ermöglicht”, hält die KCK fest. Die PKK hatte bereits am 28. Juni 2014 nach einem Aufruf Abdullah Öcalans ein zwölfköpfiges Vorabkommando zur Verteidigung von Şengal entsandt. Zwanzig Tage vor dem Massaker nahmen die Peschmerga drei Mitglieder der Gruppe und einen ezidischen Unterstützer fest. Die übrigen Guerillakämpfer zogen auf den Şengal-Berg und begannen mit der Organisierungsarbeit der Jugend. Als am 3. August der IS-Angriff begann, verteidigte eine neunköpfige Guerillagruppe die auf den Şengal-Berg geflohene Bevölkerung.
Hunderte Guerillakämpfer:innen bei Evakuierung der Bevölkerung gefallen
Die Guerillakämpfer hielten die westlich von Şengal verlaufende Straße von Sinûnê nach Dugirê und ließen keine Eroberung des Gebirges durch den IS zu. Die ezidischen Jugendlichen zogen Kraft aus dem Guerillawiderstand und schlossen sich der Verteidigung des Berges an. Nachdem die neunköpfige Guerillagruppe ohne Essen und Trinken mehrere Tage gegen die Angriffe des IS Widerstand geleistet hatte, kamen am 6. August zwei Bataillone der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava den HPG zu Hilfe. Anschließend richteten die YPG/YPJ und die HPG zusammen mit den inzwischen eingetroffenen Kämpferinnen der Frauenguerilla YJA Star einen Sicherheitskorridor ein, um die zu Zehntausenden auf den Şengal-Berg geflohenen Ezid:innen nach Rojava zu evakuieren. Über diesen Korridor konnten mit der Zeit mehr als 200.000 Menschen in das Autonomiegebiet von Nord- und Ostsyrien gelangen. So konnte ein noch größeres Massaker verhindert werden. Die Aufrechterhaltung des „humanitären Korridors“ forderte ebenfalls Opfer. Allein etwa 100 Kämpfer:innen fielen bei der Evakuierung der Bevölkerung. Insgesamt sind im Verlauf des Genozids fast 300 Mitglieder der kurdischen Verteidigungskräfte gefallen.
Menschheit muss ihre Schuld begleichen
Für die KCK bedeutet der Einsatz der Guerilla nicht nur die Rettung der Ezidinnen und Eziden, sondern auch die des Irak und der südkurdischen Regierungspartei PDK, die zum damaligen Zeitpunkt Şengal kontrollierten. Dass beide Kräfte nicht mit einer „erdrückenden Schuld“ leben müssen, sei einzig „den ersten Zwölf“ zu verdanken. „Wenn es einem einzigen Dutzend Kämpfern möglich war, diesen Völkermordangriff zu verhindern, hätten tausende ezidische Jugendliche – erfüllt vom Geist des Derwêşê Evdî – den Überfall auf Şengal selbst abwehren und ihre Gemeinschaft vor dem Völkermord bewahren können. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass dieser Genozid nur geschehen konnte, weil die Ezid:nnen damals nicht über eine Selbstverwaltung und eigene Selbstverteidigungskräfte verfügten. Der jüngste Ferman hat daher mehr als deutlich gemacht, dass es das grundlegendste Recht der Ezid:innen ist, über ihre eigene Selbstverwaltung und Selbstverteidigungskräfte zu verfügen. Sich gegen dieses Recht der EzidInnen auszusprechen, ist ungerecht und vor allem unmoralisch. Dieser Völkermordangriff und der Fakt, dass tausende ezidische Frauen auf Sklavenmärkten verkauft wurden, hat die gesamte Menschheit den Ezid:innen gegenüber schuldig gemacht. Die Menschheit muss ihre Schuld begleichen, indem sie die Selbstverwaltung und Selbstverteidigungskräfte der Ezid:innen anerkennt.”
KCK begrüßt Anerkennung des Genozids durch verschiedene Länder
Die KCK begrüßt, dass die Parlamente Belgiens, der Niederlande, Portugals und des Irak den IS-Angriff vom 3. August und alle damit verbundenen Massaker als Völkermord anerkannt haben. Diese Entscheidungen seien äußerst wichtig. „Dennoch müssen wir zugleich betonen, dass das nicht ausreicht. Was muss getan werden, um einen erneuten Völkermord zu verhindern? Das ist die entscheidende Frage, die es zu beantworten gilt. Deshalb müssen diejenigen, die den Völkermord anerkannt haben, nun für die Anerkennung der ezidischen Autonomie arbeiten. Diese Autonomie muss die Selbstverwaltung aller Ezid:innen sein – ohne zu unterscheiden zwischen politischen Überzeugungen oder Stammesverbänden. Auch Vertreter:innen anderer Glaubensgruppen und Völker können sich an der Selbstverwaltung beteiligen. Entscheidend ist, dass es ein demokratisches System ist, das die Glaubensfreiheit der Ezidinnen und Eziden und ihre Selbstverwaltung garantiert. Es existiert immer noch die Haltung, den Willen der Ezid:innen nicht anzuerkennen und sie beherrschen zu wollen. Das ist unmoralisch und ungerecht. Es darf weder zu politischen Machtkämpfen über das Schicksal der ezidischen Gemeinschaft kommen, noch zu Versuchen, ihr die eigene Autorität aufzuzwingen. Die Ezid:innen möchten keinen Staat. Sie möchten keine Macht. Sie möchten ein Selbstverwaltungssystem samt einer demokratischen Leitung. Solch ein Êzidîxan wird auch den Respekt für den Irak und Südkurdistan vergrößern.”
Kritik an Unverständnis für Verbundenheit mit Öcalan
Kritik an der „Verbundenheit und Liebe” der Ezid:innen für Abdullah Öcalan sowie Sympathie für die Guerilla weisen die KCK strikt zurück. „Seit dem Beginn seines politischen Kampfes hat Rêber Apo stets Freiheit für den Glauben und die Identität der Ezid:innen gefordert. Damit hat er ihnen einen großen Dienst erwiesen. Rêber Apo hat große Anstrengungen dafür unternommen, die Vorurteile gegenüber den Ezid:innen zu brechen. Vor den 73. und 74. Ferman warnte er die PKK vor Angriffen und forderte sie zum Schutz des des ezidischen Volkes auf. Deshalb eilten sowohl die Guerillaorganisationen HPG und YJA Star aus den Medya Verteidigungsgebieten als auch die YPG und YPJ aus Rojava nach Şengal, um sich dort dem IS entgegen zu stellen. Es ist nur natürlich, dass die Ezid:innen Rêber Apo aufgrund seiner Mentalität und Haltung lieben und sich mit ihm verbunden fühlen. Das menschliche Gewissen und Gerechtigkeitsempfinden erfordert das. Die Ezid:innen werden heute Rêber Apo gerecht, weil sie eine moralische Gemeinschaft sind. Sympathie für die Guerilla zu empfinden, ist eine Konsequenz aus menschlichem Gerechtigkeitsempfinden. Niemand kann also kritisieren, dass die Ezid:innen Sympathie für die Guerilla hegen. Vielmehr wäre es falsch, wenn sie gegenteilige Gefühle empfinden würden.”
Ignoranz der ezidischen Selbstverwaltung eine historische Ungerechtigkeit
Im April 2018 hatte die Guerilla ihre Aufgaben in Şengal erfolgreich abgeschlossen und sich auf Anordnung der KCK in die Qendîl-Berge zurückgezogen. Heute wird Şengal von der ezidischen Jugend verteidigt und mithilfe von Volksräten verwaltet die Bevölkerung sich selbst. „Dieser Fortschritt müsste im Grunde bei allen Kräften Freude bereiten. Gerade deshalb stellt es eine historische Ungerechtigkeit und Gewissenslosigkeit dar, die ezidische Selbstverwaltung aufgrund des Drucks des türkischen Staates nicht zu akzeptieren.
Zum Jahrestag des Ferman vom 3. August versprechen wir, dass wir die Ezid:innen immer verteidigen werden. Wir sind fest davon überzeugt, dass die Rache für die ezidischen Frauen dadurch erfolgen wird, dass entsprechend des Prinzips der Frauenbefreiung die demokratische Autonomie Şengals erreicht wird. Wir rufen die gesamte Menschheit dazu auf, sich für das ezidische Volk einzusetzen und deren Selbstverwaltung und Selbstverteidigungskräfte anzuerkennen.”