Die grenzüberschreitenden Angriffe des türkischen Staats, der Südkurdistan seit 1986 in Abständen aus der Luft bombardiert, haben in den vergangenen 15 Tagen eine wichtige Diskussion angeregt. Vor allem in sogenannten sozialen Netzwerken wird ein Narrativ, das vor allem von der politischen Macht in Südkurdistan ständig wiederholt wird, offen abgelehnt. Entsprechend diesem offiziellen Narrativ - zumeist von der PDK (Partiya Demokrata Kurdistanê) zum Ausdruck gebracht - bestünde der Hauptgrund für die türkischen Luftangriffe auf den Süden in der Existenz der PKK. Dementsprechend könnten diese Luftangriffe nur gestoppt werden, indem die Existenz der PKK im Süden aufgehoben wird.
Dieser Logik nach sind nicht diejenigen, die ihr Auge verschließen oder gar kooperieren, Schuld daran, dass der türkische Staat im Süden mit seiner Armee und seinem Geheimdienst „frei herumspaziert“, sondern die PKK. Nicht der Angreifer, sondern der Angegriffene ist verantwortlich. Dass ein kurdenfeindlicher Staat außerhalb seiner Grenzen Besatzungs- und Luftoperationen durchführt ist legitim, aber die Existenz der PKK als kurdische Widerstandsbewegung in Kurdistan ist illegitim. So lautet das offizielle Narrativ, so soll es innerhalb der Bevölkerung wahrgenommen werden.
Aber der Großteil der Bevölkerung denkt nicht so und schenkt den offiziellen Erklärungen keinen Glauben. Auf die Behauptung „Grund für die Luftangriffe ist die PKK“ wird „Grund für die Existenz der PKK sind die Luftangriffe“ geantwortet. In den vergangenen Tagen haben junge Menschen aus Südkurdistan Hashtag-Kampagnen bei Twitter gestartet, die es auf die weltweite Liste der Trending Topics geschafft haben und in denen auf die türkischen Luftangriffe auf Kurd*innen und Kurdistan aufmerksam gemacht wurde. Dies zeigt, dass die Lüge des türkischen Staats - „Wir haben kein Problem mit Kurd*innen, unser Problem ist mit der PKK“ - innerhalb der Bevölkerung von Südkurdistan nicht für bare Münze genommen wird.
Trotz aller Manipulationen zur Lenkung der öffentlichen Meinung durch den türkischen Staat, der Kurd*innen und Kurdistan gegenüber eine genozidale Besatzungspolitik verfolgt, sind die Köpfe in allen vier Teilen Kurdistans klar. Diese Klarheit vertieft sich sogar parallel zu jedem neuen Angriff der Türkei auf den Süden.
Aus diesem Grund entsteht aus Sicht der Türkei ein gegenteiliges Ergebnis. Denn während sie davon ausgegangen ist, dass durch Angriffe auf Zivilist*innen die Wut der Bevölkerung auf die PKK kanalisiert wird, richtet sich der Zorn der Menschen im Süden, vor allem der Jugend, immer mehr auf die Türkei selbst. Momentan wird verhindert, dass sich diese Wut auf den Straßen breitmacht. Nach dem Massaker in Şêladizê wollte die Bevölkerung dort zum türkischen Militärstützpunkt marschieren, wurde aber von den Sicherheitskräften mit Gewalt daran gehindert. Ebenso sind Menschen, die nach dem Luftangriff auf Kunemasî vor dem türkischen Konsulat in Hewlêr (Erbil) protestieren wollten, noch vor der Aktion festgenommen worden.
In Südkurdistan wächst das Bewusstsein, dass es der Türkei nicht nur um die PKK geht, sondern entsprechend ihres Nationaleids, also dem politischen Manifest nach dem Ersten Weltkrieg, Teile Süd- und Westkurdistans besetzt werden sollen. Dies kann man an den Protesten gegen die aktuellen Angriffe ablesen. Beispielsweise hat Keywan Kawa, Opfer des Luftangriffs auf Kunemasî, folgendermaßen zur Presse gesprochen: „Wenn wir Zivilisten nicht Ziel des türkischen Staats sind, warum haben sie erst angegriffen, nachdem sich der PJAK-Guerillero uns genähert hatte? Wer ist der Terrorist? Bin ich ein Terrorist oder sind es diejenigen, die mit diesem Luftangriff mein Leben in eine Tragödie verwandelt haben?“
Die Bevölkerung im Süden sieht sich momentan mit multiplen Krisen konfrontiert. Beamte erhalten seit Monaten keinen Lohn. Die Zahl der Corona-Ansteckungen ist in den letzten zwei Monaten drastisch gestiegen. Die Grenzen und Flughäfen sind geschlossen. Hinzu kommen die Luftangriffe und Besatzungsoperationen des türkischen Staats.
Ein Maß für die Wut der Bevölkerung ist ihre Reflexion auf die Straße. Natürlich kann Wut Veränderung schaffen, je mehr sie sich auf der Straße widerspiegelt. Jedoch wäre es ungerecht, der Bevölkerung vom Süden gegenüber scharf zu urteilen, ohne ihre momentane schwierige Lage und ihre Bedrängnis vor Augen zu halten. Meiner Meinung nach sollte die Bedeutung der Bewusstseinssteigerung in der Bevölkerung gegen die schmutzigen Pläne des türkischen Staats auch nicht unterschätzt werden.
In eigener Sache: Beim Luftangriff auf Kunemasî wurde Keywan Kawa leicht verletzt, aber seiner Ehefrau musste ein Bein amputiert werden. Im Kopf seines kleinen Sohnes steckt ein Schrapnell, das Ärzten zufolge nicht entfernt werden kann, ohne weitere Komplikationen zu verursachen. Sein Geschäft, das beim Luftangriff auf Kunemasî zerstört wurde, hatte sich Keywan Kawa nur mit großer Mühe und der Verwendung all seiner Ersparnisse aufbauen können. Dieser Familie muss geholfen werden.
Meral Çiçek studierte Politikwissenschaften, Soziologie und Geschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt. Während ihres Studiums begann sie, als Korrespondentin und Redakteurin für die einzige kurdische Tageszeitung in Europa Yeni Özgür Politika zu arbeiten, für die sie heute eine wöchentliche Kolumne schreibt. 2014 gründete sie mit anderen Frauen das Kurdish Women's Relations Office (REPAK) in Silêmanî, dessen Vorsitzende sie ist. Außerdem ist sie Mitglied der Redaktion des dreimonatlich erscheinenden Magazins Jineolojî (kurd. „Wissenschaft der Frau”). Der hier veröffentlichte Artikel erschien erstmals am 1. Juli 2020 auf türkisch.