Buchtipp: Jineolojî - Die Wissenschaft der Frau 

Das lang erwartete deutschsprachige Buch über die Wissenschaft der Frau ist endlich erschienen. Es enthält Beiträge des ersten Jineolojî-Bildungscamps in Deutschland, das im September 2018 stattfand.

Jineolojî als Wissenschaft der Frau kritisiert das elitäre, patriarchale, positivistische Verständnis von Wissenschaft und bemüht sich darum, einen alternativen ganzheitlichen Ansatz zu entwickeln. In vielen Ländern formulierten Frauenbewegungen und Feministinnen bereits eine Wissenschaftskritik, es entstanden Frauenforschung und feministische Wissenschafts­ansätze. Jineolojî bezieht einerseits diese Diskussionen, Erfahrungen und Erkenntnisse ein, versucht aber zugleich von den Bedingungen und Bedürfnissen in Kurdistan ausgehend eine neue Form und ein neues Verständnis der Wissenschaft von und für Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten zu entwickeln.

Erstmals wurde dieses radikale Denken aus Frauenperspektive auf der ersten Jineolojî-Konferenz im Jahr 2014 in Köln einem breiteren Publikum präsentiert. Seitdem wird das Verständnis von Jineolojî mit Seminaren und Veranstaltungen und seit 2017 durch mehrtägige Bildungscamps in vielen Regionen Europas weitergegeben und erweitert. In Deutschland fanden bisher zwei Jineolojî-Camps statt. Nun ist das lang erwartete deutschsprachige Buch über die Wissenschaft der Frau erschienen. Das Werk enthält Vorträge und Diskussionen zum ersten Jineolojî-Camp, das im September 2018 stattfand.

Die Inhalte reichen von der Geschichte des Matriarchats in Mitteleuropa, matriarchaler Mythologie und Hexenverfolgung, über Gendergerechtigkeit bis hin zur Verknüpfung von Patriarchat, Kapitalismus und (National-)Staat und der deutschen Nationalstaatsgründung, dem deutschen Kolonialismus und Nationalsozialismus, Fragen zum Individualismus und Organisierung sowie praktisch nutzbares Kräuterheilwissen.

Das Buch kann bestellt werden bei:

Jineolojî-Komitee-Deutschland: [email protected]

ISKU - Informationsstelle Kurdistan e.V.: [email protected]

Eine bundesweite Buchpräsentationstour ist in Vorbereitung, Veranstaltungstermine können aufgrund der Covid-19-Pandemie aktuell noch nicht festgelegt werden. Sobald die Termine feststehen, werden wir darüber informieren. Gruppen, die lokale Buchpräsentationen organisieren möchten, können sich an das Jineolojî-Komitee-Deutschland wenden.

Jineolojî: Wissenschaft der Frau 

Jineolojî ist aus der kurdischen Freiheitsbewegung entstanden und ist die Wissenschaft der Frauen. Das Wort Jineolojî ist aus zwei Wörtern zusammengesetzt: „jin“ was im Kurdischen für Frau steht und „lojî“ vom griechischen „logos“ für Wissenschaft. Das Kurdische Wort „jiyan“ für Leben steht auch mit drin. Es ist also die Wissenschaft von der Frau, für die Frau und für ein freies Leben. Sie ist die wissenschaftliche Basis der demokratischen Moderne.

Das Wort „Jin” hat in der kurdischen Sprache eine umfangreichere Bedeutung als es das deutsche Wort „Frau” wiedergibt. Hier ist die kurdische Bedeutung gemeint.

Das erste Mal schrieb Abdullah Öcalan 2008 in seiner Verteidigungsschrift „Soziologie der Freiheit“ von Jineolojî. Darin heißt es: „Solange das Wesen der Frau im Dunkeln bleibt, ist es nicht möglich das Wesen der Gesellschaft aufzuklären. (...) Um die Geschichte der Kolonialisierung von Frauen zu lösen – einschließlich ihrer wirtschaftlichen, sozialen, politischen und mentalen Kolonialisierung – wird die Aufklärung aller anderen Fragen in der Geschichte und allen Seiten der heutigen Gesellschaften nicht möglich sein.“

In den letzten zehn Jahren wurde die Jineolojî als radikale Wissenschaft der Frau, die die Geschichte, die Gegenwart und die Zukunft aus einem nicht patriarchalen Blickwinkel betrachtet, um so Lösungsvorschläge für eine befreite Gesellschaft zu finden, Stück für Stück entwickelt, vertieft und erweitert. Sie wurde zu einem Mittel, um die Geschichte der Frau zu schreiben, ihr eigenes Wissen wiederzuerlangen, um dadurch eine emanzipierte Kraft im Kampf um Freiheit zu sein und eine alternative Perspektive für die ganze Gesellschaft und Umwelt darzustellen. Die Jineolojî baut auf dem Konzept des demokratischen Konföderalismus auf, der derzeit in Rojava (Nord- und Ostsyrien) in die Praxis umgesetzt wird. Die Revolution in Rojava wird deswegen auch die Frauenrevolution genannt, weil sie eine wahre Alternative zu dem patriarchalen Herrschaftssystem darstellt. Und dies mit neuen Methoden, die nicht nach dem Konzept von Macht, Unterdrückung, Ausbeutung, Unterwerfung oder Eigentum funktionieren. Die Jineolojî beschränkt sich dabei nicht nur auf das Gebiet Rojava, sondern bildet die zur Zeit vielleicht bedeutendste wissenschaftliche Perspektive für gesellschaftlichen Wandel und den Kampf für Freiheit weltweit. Im Gegensatz zum Feminismus – den sie als Erbe und Teil von sich versteht – versucht die Jineolojî darüber hinaus zu wachsen und weiter gefächert gesellschaftliche Themen und soziale Kämpfe gegen Patriarchat, Staat, Herrschaft, Macht und Unterdrückung miteinander in Beziehung zu setzen, um aus der Geschichte zu lernen und sich aus einer Frauenperspektive neu zu organisieren, um die Gesellschaft und die Verhältnisse zu verändern.

Im Kampf um Befreiung ist eine gute Analyse der Geschichte und somit auch des Bruchs der Geschlechter von Bedeutung. Mit der Jineolojî soll dieses Wissen um die Frau von der Frau selbst wiedererlangt und so als Sozialwissenschaft der Gesellschaft zurückgegeben werden, damit ein sozialer Wandel möglich wird und eine alternative Gesellschaft auf den Werten der sozialen Freiheit aufgebaut werden kann. Ohne die Freiheit der Frau kann auch keine soziale Freiheit entstehen, sie ist sozusagen das Fundament für das Erreichen eines lebenswerten kollektiven Lebens.

Die Jineolojî ist noch im Prozess sich in Europa auszubreiten und bekannt zu werden, deshalb gibt es noch nicht viel deutsche Literatur dazu. Vieles wird durch erfahrene Frauen mündlich, zum Beispiel in Vorträgen und Seminaren weitergegeben. Dies resultiert unter anderem auch aus dem Wesen der Jineolojî, keine Elite aus Expertentum zu schaffen, sondern das kollektive Gedächtnis, das jahrelang kollektivierte und über Erfahrungsaustausch weitergegebene Wissen einer Gesellschaft wiederzuerlangen. Um damit eine praktische Alternative zur dominanten patriarchalen Weltsicht – die kapitalistische Moderne als einzige Gesellschaftsform – wahrzunehmen und lebbar werden zu lassen. Nicht nur geschriebenes Wort ist Wissenschaft, auch andere Erfahrungen wie Gesprochenes und Gesungenes (wie beispielsweise Dengbêj) oder Mythologien und archäologische Funde gelten als Quelle und Material für die Jineolojî-Forschung. Dadurch trennt sie sich als Wissenschaft nicht von der Gesellschaft, sondern ist unmittelbar mit ihr verbunden und in einer Wechselbeziehung. Gleichzeitig steht bei der Jineolojî der Prozess und die Möglichkeit der Infragestellung in Vordergrund. Die Jineolojî, die sich in den freien Bergen Kurdistans entwickelte, lernt und wächst aus den Erfahrungen in anderen Teilen der Welt, auch Europa. Außerdem deckt die Jineolojî viele Bereiche ab, wie zum Beispiel Geschichte, Bildung, Ethik und Ästhetik, Gesundheit, Ökologie, Ökonomie, Demografie und Politik. Diese Tatsachen machen es gerade für Einsteigerinnen mit europäischer Sozialisation nicht leicht, sich in der Jineolojî einzufinden.

Deswegen finden in Europa Jineolojî-Camps statt, bei denen für mehrere Tage unterschiedliche Frauen, nicht-binäre und trans* Personen zusammenkommen, um über Themen der Jineolojî zu diskutieren, sich gesellschaftliches Wissen wieder anzueignen und miteinander ein kollektives Leben aufzubauen. Die nun veröffentlichte Broschüre ist eine Dokumentation über das Jineolojî-Camp, welches im September 2018 in Deutschland stattfand. So wurde eine Möglichkeit geschaffen, das zusammengetragene Wissen über die erarbeiteten Themen, kontroversen Diskussionen und sehr vielseitigen Seminarthemen weiter zu verbreiten, sie zu vertiefen und die alternative Wissenschaft Jineolojî zu bereichern. Anderen kämpfenden Gruppen und organisierten, militanten Persönlichkeiten soll die Möglichkeit geben werden, aus den bereits geleisteten Kämpfen Kraft und Hoffnung zu schöpfen, um mit dieser „Jinerjî“ (Energie der Frauen) dem Widerstand weltweit zum Erfolg zu verhelfen und als Langzeitperspektive sich an dem Aufbau eines Weltfrauenkonföderalismus zu beteiligen.