Der Name Dersim steht für Widerstand, für die kurdische Freiheitsbewegung und die revolutionäre Linke, für Aufstände, Massaker und den Genozid im Jahr 1938, als mindestens 70.000 alevitische Kurdinnen und Kurden vom türkischen Militär ermordet wurden. Auch 83 Jahre später liegt die von einer einmaligen Natur umgebene Provinz im Fokus der Spezialkriegspolitik des türkischen Staates. Dieser Spezialkrieg reicht von der Errichtung von Militärfestungen und ständigen Kontrollen über Drogenhandel, die Förderung von Alkoholkonsum, Bespitzelung, Korrumpierung und Prostitution bis hin zum Verschwindenlassen, Folter und extralegalen Hinrichtungen. Das von den Munzur-Bergen überragte Dersim befindet sich de facto im Besatzungszustand.
Diese Beobachtungen machte jüngst eine Delegation der Demokratischen Partei der Völker (HDP), die im Rahmen der Kampagne „Gerechtigkeit für alle“ zwei Wochen lang in der Provinz aufhielt. Zur Delegation gehörten unter anderem die beiden Abgeordneten Alican Önlü und Kemal Bülbül. Im Parlament in Ankara beschrieben sie diese Woche die Situation in Dersim als „dramatischen Ausdruck der Unterdrückungspolitik“ des Regimes.
„Zwangsverwalter agieren als Kader der MHP und AKP“
„Alles in Dersim wird vom Gouverneur in einem unilateralen Selbstverständnis entschieden und umgesetzt“, erklärte Önlü zusammenfassend die Situation in der von Militärfestungen, Beobachtungs- und Kontrollpunkten übersäten Provinz. Der Gouverneur und seine Beamten fungierten nicht als Verwalter einer Provinz, sondern als „Kader“ der AKP und der MHP. „Öffentliche Einrichtungen dienen einzig und allein dem Regime und nicht den Menschen. Die Regimekräfte verhalten sich in jeder Beziehung feindselig unserer Partei gegenüber. Das Feindrecht der Palastregierung wird in Dersim direkt umgesetzt.“
Pressekonferenz von Alican Önlü und Kemal Bülbül in der türkischen Nationalversammlung | © Pirha
„Es geht um Assimilation und Korrumpierung“
Die öffentlichen Einrichtungen werden laut Önlü von religiösen Orden und Vereinen beherrscht und es findet eine Politik der Korrumpierung und Assimilation gegenüber der kurdisch-alevitischen Bevölkerung statt. „Der Bereich, der vom Regime in der Türkei und in der Region am stärksten angegriffen und zerstört wurde, ist der Frauenbereich. Gülistan Doku beispielsweise ist seit über einem Jahr ‚verschwunden‘. Warum? Sie ist nicht verschwunden, man hat sie verschwinden lassen. So soll den Frauen eine Botschaft vermittelt werden.“ Gegen antidemokratische Praktiken würden keine rechtlichen Schritte oder Ermittlungen eingeleitet. Die ganze Bevölkerung der Region werde unter Generalverdacht gestellt und erfasst, es komme zu Femiziden, Vergewaltigungen und sexualisierter Gewalt gegen Kinder, so Önlü. „Den Menschen ist es verboten, die Almen aufzusuchen. Ganze Landstriche werden zu Sperrgebieten erklärt und das demokratische Grundrecht der Versammlungsfreiheit existiert nicht mehr. All das sind Beispiele der in Dersim herrschenden antidemokratischen Praxis. Während gegen Korrumpierung und Assimilation nichts unternommen wird, werden die, die von ihrem Recht auf demokratischen Protest Gebrauch machen, mit Strafen überzogen.“
„90 Jahre Politik von Assimilation und Missachtung“
Nach Angaben von Alican Önlü ist die Produktion in der Region durch die Weideverbote praktisch zum Erliegen gekommen. „Selbst um die einfachsten Formen der landwirtschaftlichen Produktion durchführen zu können, werden die Menschen gezwungen, als Agenten des Regimes zu arbeiten. Die Regierung will, dass die Menschen ihr Treue schwören. Seit 90 Jahren wird gegen den Glauben in Dersim eine Politik der Assimilation und Missachtung praktiziert. Die offensichtlichste Form dafür ist der Bau von Moscheen in alevitischen Dörfern und die zwangsweise Einschulung von Kindern in Imam-Hatip-Schulen [islamistische Schulen, ANF]. In der letzten Zeit erklingt über den alevitischen Dörfern der Muezzin aus den Militärstützpunkten. Das ist respektlos sowohl gegenüber dem alevitischen Glauben als auch gegenüber dem Islam. Eines der Hauptprobleme, mit denen die Menschen in Dersim konfrontiert sind, ist das Dorfschützersystem. Insbesondere Frauen werden gezwungen, Teil dieses Systems zu werden.“
Der HDP-Abgeordnete Kemal Bülbül macht als eines der größten Probleme in Dersim das 1935 verabschiedete Tunceli-Gesetz aus, das immer noch in Kraft ist. Durch dieses Sondergesetz wurde Dersim in Tunceli (tr. Bronzefaust) umbenannt und einem Militärgouverneur unterstellt, der nach eigenem Gutdünken Festnahmen und Deportationen anordnen durfte. „Tunceli ist der Name einer Militäroperation. Der Name der Stadt und Umgebung ist Dersim. Dieser Name muss zurückgegeben werden“, fordert Bülbül.
„Lokale Produktion wird vernichtet“
Bülbül erwähnte, dass die Sicherheitspolitik in Dersim auch zu ökologischen Zerstörungen führt. In diesem Zusammenhang wies der Politiker insbesondere auf die Bedeutung der Staudämme und Kraftwerke hin, durch die weite Teile der Provinz zerstört werden. „Dersim ist keine Industriestadt. Die Arbeitsmöglichkeiten sind sehr begrenzt. Aufgrund der Repression durch Dorfschützer, Weideverbote und Gefechte ist die lokale Produktion praktisch am Ende. Läden können nicht mehr überleben. Die Förderungen gehen nicht an die lokalen Geschäfte, sondern an Anführer von Verbrecherbanden, die von außen kommen. Es gibt ein Problem mit den Straßen. Die Straßen, die zu Bezirken, Dörfern und heiligen Stätten führen, sind eigentlich nur Feldwege. Aber die Wege zu den Militärfestungen sind perfekt ausgebaut. Es werden systematisch Brände in Dersim gelegt. Die Bergziegen werden ausgerottet.“
Was soll geschehen?
Alican Önlü und Kemal Bülbül stellen aufgrund ihrer Beobachtungen und Gespräche in Dersim folgende Forderungen:
* Die Spezialkriegspolitik in Dersim muss sofort aufhören.
* Der Staat muss den Glauben, die Sprache und die Kultur der Menschen in Dersim akzeptieren.
* Die Weideverbote müssen aufgehoben, das Dorfschützersystem und das Spitzelwesen beendet und die regionale Produktion muss unterstützt werden.
* Es müssen gerechte Bedingungen geschaffen werden, sodass lokale Gewerbetreibende mit den großen Firmen konkurrieren können.
* Die Sperrgebiete müssen aufgehoben und die Dorfbevölkerung, die Landwirtschaft, Bienen- und Viehzucht betreibt, muss unterstützt werden.
* Entscheidungen über heilige Orte müssen unter Einbeziehung der Glaubensgemeinschaften getroffen werden.
* Die Ressourcen, die für die Sicherheitspolitik aufgebracht werden, müssen an die Bevölkerung von Dersim gehen.
* Auch die Kommunalverwaltungen tragen eine wichtige Verantwortung. Die Zerstörung der Kultur, Sprache und Religion der Menschen durch das System der Zwangsverwaltung muss aufgehoben werden.