Die groß angelegte Assimilationspolitik des türkischen Staates in der alevitisch-kurdischen Provinz Dersim bekommt nach Angaben des Istanbuler HDP-Abgeordneten Ali Kenanoğlu eine neue Dimension. Für das Sommersemester 2021 haben mehr als 600 internationale Studierende eine Zulassung für einen Studiengang an der Munzur-Universität, die als Zentrum der Indoktrination im Sinne des Regimes gilt, erhalten. Die Zusammensetzung ist allerdings beunruhigend: bei mehr als 90 Prozent der ausländischen Studierenden handele es sich um Staatsangehörige von Ländern wie etwa Syrien, Somalia, Libyen, dem Jemen und Irak – Regionen, in denen die Türkei intensiv mit Bildungseinrichtungen zur Stärkung der Soft Power aktiv ist, wie etwa über die staatliche Maarif-Stiftung, sowie militärisch interveniert oder zumindest präsent ist, um ihren Führungsanspruch in der islamischen Welt durchzusetzen. Kenanoğlu warnt explizit davor, dass es sich bei den künftigen Studenten in Dersim um Anhänger der salafistischen Denkschule handeln könnte.
Kenanoğlu: Wir sind mehr als alarmiert
„Von staatlichen Universitäten erwarten wir, dass sie im Einklang mit der bestehenden Kultur und Geschichte der Stadt und der Struktur ihres Sozialraums handeln. Erwartungsgemäß sollte die Universität Munzur daher alle Facetten des Alevitentums, der Sprachenvielfalt, Bräuche, Traditionen und Strukturen in Dersim richtig erfassen, fördern und schützen“, sagte Kenanoğlu am Montag im Parlament in Ankara. Die Handlungsgrundlage dieser Hochschule bilde allerdings die Zerstörung des ethno-kulturellen, linguistischen und ethno-religiösen Mosaiks von Dersim. „Es ist mehr als alarmierend, dass die künftigen Auslandsstudenten nahezu vollständig aus islamisch sowie islamistisch geprägten Ländern stammen.“
Mehr als 400 Studenten aus Syrien
Allein 422 der insgesamt 609 ab dem Frühjahr in Dersim lebenden ausländischen Studierenden seien syrische Staatsangehörige, weitere 31 aus Somalia, 30 aus Ägypten und 76 aus Afghanistan, Bangladesch, Jordanien, Marokko, Libyen, Irak und Iran, so Kenanoğlu. „Gerade für die alevitische Bevölkerung in Dersim ist es vor diesem Hintergrund von existenzieller Bedeutung zu erfahren, welche politischen, ideologischen und religiösen Ansichten diese Studenten pflegen.“ Mit Blick auf das staatliche Bestreben der Assimilation und den Erfahrungen mit der Munzur-Universität, rufe der Gedanke an 600 mutmaßlich islamistische Personen in der gerade mal 35.000 Einwohner zählenden Provinzstadt tiefe Besorgnis hervor. Die Universitätsleitung dagegen hält sich weitgehend bedeckt. Anfragen bezüglich der Thematik wurden bislang ignoriert.
Ali Kenanoğlu in der türkischen Nationalversammlung
Dersim - Eine Geschichte der Aufstände, des Widerstands und Genozids
Den Homogenisierungsbestrebungen der Türkei fielen Anfang des 20. Jahrhunderts viele ethnische und religiöse Minderheiten zum Opfer. 1915 begann Aghet – der Völkermord an den Armeniern. Es war ein Verbrechen von ungeheuerlichen Dimensionen, befohlen von der jungtürkischen Regierung des Osmanischen Reiches, und forderte mehr als 1,5 Million Opfer. 22 Jahre später, die türkische Republik war bereits gegründet worden, folgte in Dersim Tertele – der Untergang. Zwischen 1937 und 1938 tötete die türkische Armee hier etwa 70.000 Menschen, überwiegend Frauen und Kinder.
Überlieferte Erinnerungen von Militärs, die sich des Genozids mitschuldig machten, sprechen ungeschminkt von dem Auftrag, der ihnen die Vernichtung befahl: Frauen, Kinder und alte Menschen, die sich in Höhlen versteckt hatten, wurden eingemauert, ausgeräuchert und durch Giftgas getötet. Kinder wurden enthauptet und Schwangere mit Schwertern ermordet. Etliche Frauen stürzten sich aus Angst vor dem kriegerischen Mob von den Bergklippen in den Fluss Munzur hinunter, um nicht in die Hände der türkischen Soldaten zu fallen. Zahlreiche Dörfer wurden durch Bombenhagel und Artillerie in Schutt und Asche gelegt. Mehr als 100.000 Menschen wurden zur Deportation gezwungen. Unzählige Mädchen und Jungen wurden verschleppt. Dennoch hat sich die Bevölkerung Dersims, eines der Zentren der alevitischen Weltanschauung, niemals der türkischen Oberherrschaft gebeugt. Daher sind die historischen und kulturellen Besonderheiten und die Weltanschauung der Menschen in Dersim immer das Ziel einer Spezialkriegspolitik gewesen. Während einerseits ein brutaler Krieg geführt wird, wird andererseits über religiöse Orden, Schulen und Stiftungen die Kultur der Region attackiert.
Munzur-Universität: Fokus der Assimilation
Ein Mittel dazu ist auch die Munzur-Universität. Die Bildungseinrichtung ist zum Zentrum von Orden und Gemeinden des türkischen Regimes geworden. Mit dem Ziel der Assimilation breiten sie sich von dort in der Stadt aus. Als die Erdogan-Regierung noch mit der Gülen-Sekte zusammenarbeitete, lief die Assimilationspolitik vor allem über deren Bildungseinrichtungen. Auch die Professorenschaft an der Universität war von Gülen-Anhängern durchsetzt. Diese wurden mittlerweile durch Vertreter von Erdoğans AKP-Flügel ausgetauscht. Zur Indoktrination dient beispielsweise die Birlik Vakfı (Einheitsstiftung). Sie soll die Studierenden im Sinne des Regimes organisieren. Ahmet Zülfü Türkoğlu, ein Lehrbeauftragter, der wegen sexueller Übergriffe berüchtigt ist, wurde zum Leiter dieser Stiftung ernannt. Der Direktor der Munzur-Universität, Ubeyde Ipek, gibt die Funktion dieser Strukturen offen zu: „Wenn wir die Lücke in Tunceli nicht füllen, dann werden das andere Organisationen und Politikrichtungen tun.“