Kunstschaffende aus der Türkei fordern in einem dringenden Appell an die Öffentlichkeit Verhandlungen über eine friedliche Lösung der kurdischen Frage. Die von 564 Persönlichkeiten unterzeichnete Deklaration „Lasst uns eine Stimme für den Frieden sein“ wurde heute im Taksim Hill Hotel in Istanbul vorgestellt. Unter den Unterzeichnenden befinden sich prominente Namen wie der Musiker Cevdet Bağca, die Schriftstellerin Ayşegül Devecioğlu, der Kunstkritiker und Maler Feyyaz Yaman, der Autor Firat Cewerî, der Regisseur Haşim Aydemir, die Schauspielerin Jülide Kural, der Musiker Mikail Aslan, die Dokumentarfilmerin Nejla Demirci, der Fotograf Özcan Yaman, die Malerin Sevinç Altan, der Autor Şanar Yurdatapan und der Regisseur und DEM-Abgeordnete Sırrı Süreyya Önder.
Ayşegül Devecioğlu stellt die Deklaration auf der Pressekonferenz in Istanbul vor
„Lasst uns eine Stimme für den Frieden sein“
In der Deklaration bringen die Kunstschaffenden ihre Besorgnis über den Zustand der Republik Türkei zum Ausdruck und erklären: „Wenn wir heute schweigen, kann es sein, dass morgen niemand mehr da ist, der sprechen kann. Wir wollen nicht tatenlos zusehen und schlagen vor, gemeinsam eine Zukunft zu gestalten, in der alle ethnischen, religiösen und kulturellen Identitäten frei leben und nicht unterdrückt werden oder Pogromen ausgesetzt sind.“
Die Justiz habe unter dem „Ein-Mann-Regime" von Tayyip Erdogan ihre Unabhängigkeit verloren, das säkulare und freie Bildungswesen mache Rückschritte, Universitäten und Gemeinden würden von staatlichen Treuhändern verwaltet, Frauen seien Gewalt ausgesetzt, die Abwanderung von Fachkräften habe einen Höhepunkt erreicht und die Jugend verlasse das Land aus Angst um ihre Zukunft, so die Deklaration: „Wir sind der Meinung, dass wir in dieser Atmosphäre sich verschärfender sozialer und wirtschaftlicher Krisen, in der demokratische Möglichkeiten zur Lösung von Problemen, die sich aus Verleugnung und Assimilation ergeben, ausgeschlossen sind und Gewalt als Politik ständig aktualisiert wird, eine neue Sichtweise brauchen.“
Die Probleme müssen auf dem Verhandlungsweg gelöst werden
Die Kunstschaffenden verweisen auf die zunehmende Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft hin und stellen fest, dass „die öffentliche Meinung von der Regierung stark manipuliert“ wird, um von den eigentlichen Problemen abzulenken:
„Die Gesellschaft befindet sich in einem ideologischen und politischen Belagerungszustand. Die Isolations- und Kriegspolitik vertieft die soziale und wirtschaftliche Krise. Tausende von Menschen werden wegen ihrer politischen Ansichten unrechtmäßig inhaftiert und sind quasi politische Geiseln. Die menschenrechtswidrigen Praktiken in den Gefängnissen nehmen von Tag zu Tag zu. Tausende von politischen Gefangenen befinden sich derzeit im Hungerstreik gegen die Isolation. Die Forderungen der im Hungerstreik befindlichen politischen Gefangenen müssen angehört und durch Verhandlungen gelöst werden.
Wir sind der Meinung, dass die Probleme der Türkei auf dem Verhandlungsweg gelöst werden sollten. Der 2013 begonnene Lösungsprozess, der in der Bevölkerung große Hoffnungen auf Versöhnung weckte, wurde als wertvolle Phase erlebt. Die Verhandlungen mit Abdullah Öcalan, einem der Gesprächspartner in dieser Frage, hatten die Möglichkeit zur Versöhnung geschaffen. Mit der Zustimmung eines großen Teils der Gesellschaft kann dieser Prozess wieder beginnen. Die Gesellschaft muss Mut für den Frieden aufbringen. Sie sollte keine Angst vor einem Dialog und Gesprächen haben.“
Die Stimme der Kunst war noch nie so leise
Von der Regierung fordern die Kunstschaffenden, die „Politik der Unterdrückung, der Isolation und des Krieges“ aufzugeben. Feyyaz Yaman von Karşı Sanat erläuterte nach der Verlesung der Deklaration, den Kunstschaffenden gehe es um die Verteidigung des Friedens: „Unser Rahmen ist dabei der Bereich der Kunst. Die Kunst hat noch nie ein solches Umfeld von Gewalt, Viktimisierung und Ungerechtigkeit erlebt wie heute. Ihre Stimme war noch nie so leise. Dieses Schweigen ist nicht nur auf wirtschaftliche Schwierigkeiten der Kunstschaffenden zurückzuführen. Künstlerinnen und Künstler können nicht auftreten, die Schriftsteller können ihre Bücher nicht schreiben. Der Hauptgrund für all diese Krisen ist, dass der gesellschaftliche Konsens auch auf rechtlicher Ebene zusammengebrochen ist. Dieses zum Schweigen gebrachte Umfeld, das wir heute überall auf der Welt erleben, veranlasst uns, unsere Rechte einzufordern. Wenn die Kunst eine kritische Sprache sprechen soll, dann muss sie zuerst die Rechte und das Zusammenleben der Völker einflechten. Wir laden Künstlerinnen und Künstler ein, sich gemeinsam gegen diejenigen zu stellen, die einen ständigen Vernichtungsprozess durchsetzen und auf die angebliche Notwendigkeit hinweisen. Dafür müssen wir einen echten Dialogprozess erschaffen, mit allen unseren Unterschiedlichkeiten.“
Fotos: MA