„Die Verbote schüchtern uns nicht ein, sie stärken uns“

„Was bedeutet denn schon ein Konzertverbot gegenüber der Tatsache, dass einem gesamten Volk die Luft zum Atmen genommen werden soll? Nichts“, kommentiert der im NÇM organisierte Bildhauer Şahin Doğan die Verbotspraxis in der Türkei.

Seit seiner Gründung vor 30 Jahren stellt das Mesopotamische Kulturzentrum (NÇM) einen wichtigen Eckpfeiler zur Verteidigung der kurdischen Sprache und Kultur dar. Trotz Unterdrückung und Verleugnung ist es der Einrichtung in den vergangenen drei Jahrzehnten gelungen, in den Bereichen Musik, Theater, Tanz, Film und Literatur wertvolle Beiträge gegen die Assimilierung der kurdischen Identität hervorzubringen. Doch die staatliche Ignoranz gegenüber der Kultur der Kurdinnen und Kurden, die verschiedenen Formen und Dimensionen der Unterdrückung, ziehen sich bis heute wie ein roter Faden durch die Geschichte des NÇM. Ein deutliches Beispiel aus jüngerer Zeit ist das Verbot eines Konzerts zum 30. Gründungsjubiläum durch das Landratsamt Istanbul-Kadıköy. Begründet wurde es mit einer „unmittelbaren Gefährdung für die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung”, sofern das Konzert durchgeführt wird. Zudem machte die Behörde geltend, es bestünden dahingehend Bedenken, dass das Konzert „die Rechte und Freiheiten anderer” gefährde und „Raum für Straftaten” eröffne. Mit der Covid-19-Pandemie hat der türkische Staat sein Instrumentarium zur Unterdrückung des Kurdischen erweitert, infektionsrechtliche Bestimmungen werden als Mittel zur Isolierung der Kultur eingesetzt.

Bei dem im NÇM organisierten Bildhauer Şahin Doğan löst das Festhalten an dieser Form der Unterdrückung nur Kopfschütteln aus. „Die Repression zieht sich bereits durch die gesamte Geschichte der vor knapp hundert Jahren gegründeten Republik. Seit bald einem Jahrhundert wird das kurdische Volk unterdrückt. Es ist ein schleichender Ethnozid auf Raten. Unsere Gesellschaft hat es mit dem staatlich gewollten und geförderten Versuch zu tun, unsere kulturelle Identität auszulöschen“, sagt Doğan.

Allgegenwärtiges Paradigma des ethnischen Nationalismus

Die türkische Staatsgründung basiert auf einer Politik der Vernichtung. 1925 wurde der „Reformplan für den Osten“ (Şark Islahat Planı) zur Durchsetzung der Türkisierung des Landes beschlossen. Alle nicht-türkischen und nicht sunnitischen Völker des Territoriums sollten im Hinblick auf das Paradigma des ethnischen Nationalismus, das kulturelle und ethnische Unterschiede leugnete, „zivilisiert“ – also türkisiert und sunnitisiert werden. Laut Şahin Doğan dauert dieser Zustand auch heute an, nur unter einem anderen Namen. „Und er war, wenn auch nur in Teilen, erfolgreich. Werfen wir einen Blick auf die letzten drei bis vier Jahrzehnte. Diese Phase hat Kurdinnen und Kurden hervorgebracht, die sich ihrer Identität wegen geschämt, sie geleugnet haben. Die Republik Türkei wurde als Nationalstaat gegründet mit einer ethnisch homogenen Bevölkerung, in dem sich jeder zum Türkentum bekennen sollte. Das kurdische Volk galt als größte Gefahr für dieses Projekt, da es sich nicht widerstandslos der gewünschten Zwangsassimilation oder Vernichtung unterwerfen ließ. Für die Armenierinnen und Armenier dagegen hatte man zuvor das sogenannte Deportationsgesetz erlassen, durch das am Ende eine gesamte Nation samt ihrer Kultur nahezu völlig ausgelöscht wurde. Bei der kurdischen Bevölkerung gelang es ihnen nicht.“

Aktualisierte Form des Reformplans: Zersetzungsplan

Als Aktualisierung des Reformplans für den aufständischen kurdischen Osten bezeichnet Doğan den von der AKP noch während des „Friedensprozesses“ 2014 hervorgebrachten „Çöktürme Planı“ – ein Begriff, den man sinngemäß als „Zersetzungsplan“ übersetzen kann – auf den Weg. Es handelt sich um ein Konzept des „totalen Krieges” gegen das kurdische Volk, seine Organisationen und Errungenschaften. Eine wichtige Komponente dieses umfassenden Vernichtungsplans ist die Zerschlagung der kurdischen Kommunalpolitik und die Unterdrückung der Kultur. „Das NÇM ist im Grunde als Antwort auf dieses alte Verständnis von Genozid und Ethnozid entstanden und hat es ignoriert. Wir erlebten damals auch keine wirtschaftliche Blütezeit, im Gegenteil wurde das Kulturzentrum inmitten einer von Krieg und Unterdrückung geprägten Phase gegründet. Unter diesem Dach die kurdische Kultur zu erhalten, glich zu jener Zeit einem Hemd aus Feuer, das man sich überzog.“

Offener, vielschichtiger und anmaßender Rassismus

Zwar habe es in den letzten dreißig Jahren auch Zeiten gegeben, wo für offenen Faschismus und Rassismus offiziell kein Platz gewesen sei und unter dem Deckmantel „rechtstaatlicher Reformen“ die Augenwischerei betrieben wurde, den Kurd:innen kulturelle Freiheiten zu gewähren. „Faktisch lautete der Leitspruch aber: ‚Ja, wir erlauben dir, mit deiner kurdischen Existenz als Individuum zu leben. Aber das Recht auf Existenz als Volksgruppe gewähren wir nicht‘. Das ist der geheime Rassismus und Faschismus, von dem wir immer sprechen. Werfen wir aber einen Blick auf die letzten fünf bis sechs Jahre und auf die Praxis des Zersetzungsplans, erkennen wir, dass sich faschistische und rassistische Denk- und Handlungsweisen nicht mehr verstecken lassen. Sie wirken heute sogar noch viel offener, vielschichtiger und vor allem anmaßender“, meint Şahin Doğan.

Wir erwarten nichts vom Staat

Nach der hundertjährigen Geschichte des Unterdrückens sei man nun an einem Punkt angelangt, an dem es als „Selbstverständlichkeit“ gelte, die kurdische Identität zu verdrängen. „Deshalb wundern wir uns schon gar nicht mehr über die Verbotspraxis, mit der wir es heute zu tun haben. Ohnehin birgt ein geheimer Faschismus viel größere Gefahren. Fakt ist aber, dass wir die Verleugnung der kurdischen Nation als Volk, die jahrzehntelang offizielle Staatspolitik war – erinnern wir uns an die Idee, Kurden seien ‚Bergtürken‘ – überwunden haben. Dies gelang uns durch Widerstand. An dieser Tradition hält das NÇM fest.” Laut Doğan verfolge das Zentrum einen ganzheitlichen Kampf, der sich durch Verbote nicht entmutigen lasse. Als einer der wichtigsten Eckpfeiler zur Verteidigung der kurdischen Kultur erwarte man auch nicht, dass der Staat den Weg ebnet. „Wir werden unseren Weg gehen, wie wir ihn seit 30 Jahren bestreiten, und unsere eigenen Möglichkeiten verwirklichen. Finden wir keine Bühne, bauen wir eben unsere eigene und gehen weiter auf die Straße. Diese Verbote schüchtern uns nicht ein, sie stärken uns. Was bedeutet denn schon ein Konzertverbot oder die Verhinderung der Aufführung eines Theaterstücks gegenüber der Tatsache, dass einem gesamten Volk die Luft zum Atmen genommen werden soll? Nichts. Der Befreiungskampf ist ein ganzheitlicher Widerstand, Kunst und Kultur sind nur eine Säule dessen. Unser Platz ist jener an der Seite unseres Volkes.“