NÇM - Ankerpunkt kurdischer Kultur mitten in Istanbul

Seit seiner Gründung vor 29 Jahren stellt das Mesopotamische Kulturzentrum einen wichtigen Eckpfeiler zur Verteidigung der kurdischen Kultur dar. In den 90ern wurde es zu einem kulturellen Ankerpunkt für die aus Nordkurdistan vertriebene Bevölkerung.

Vor 29 Jahren wurde in Istanbul das Mesopotamische Kulturzentrum Navenda Çanda Mezopotamya (NÇM) gegründet. Seitdem leistet die Einrichtung in allen kulturellen Bereichen intensive Arbeit. Anfang der 1990er Jahre wurde das NÇM zu einem wichtigen kulturellen Ankerpunkt für die aus Nordkurdistan vertriebene kurdische Bevölkerung. Als es 1991 im Herzen der größten türkischen Stadt gegründet wurde, war der Vernichtungskrieg in Nordkurdistan gerade in vollem Gange. Über 4.000 Dörfer wurden vom Militär zerstört und Millionen Menschen vertrieben. Das NÇM ließ in Istanbul die kurdische Kultur aufleben und wurde zum Vorbild ähnlicher Einrichtungen in Izmir und Adana. Die Mitarbeiter*innen waren immer Zielscheibe heftiger Repression, viele wurden Dutzende Male festgenommen, inhaftiert und gefoltert. Das NÇM stellte trotz aller Repression den Fokus dar, um den sich revolutionäre Kulturgruppen organisierten. Dass trotz allem auf Hochzeiten und Veranstaltungen auch im Herzen Istanbuls kurdische Musik erklingen konnte, hinterließ einen großen gesellschaftlichen Eindruck. Aus dem NÇM gingen viele bedeutende Gruppen und Künstler*innen hervor. Einer von ihnen war der Musiker Hozan Hogir, der 1998 zusammen mit 40 weiteren Kämpfer*innen der ARGK (aus der 2000 die HPG hervorgingen), unter ihnen die deutsche Internationalistin Andrea Wolf, von der türkischen Armee in der Provinz Wan (türk. Van) ermordet und in einem Massengrab verscharrt wurde.  

Der langjährige NÇM-Musiker Hüseyin Ildan (Genim) hat sich im ANF-Interview über die Geschichte der Institution geäußert.

Sie sind Gründungsmitglied des NÇM. Was war das damals für eine Zeit?

Die 90er Jahre waren für unsere Generation sowohl im Hinblick auf die kurdische Kunst wie auch in kultureller Sicht von größter Bedeutung. Die Konkretisierung der kurdischen Kultur und ihre Verortung, aber auch dass ein physischer Ort organisiert werden konnte, waren sehr wichtig. Anfang der 90er Jahre haben die Kurdinnen und Kurden das NÇM als ihr Zuhause betrachtet. Es war der Ort, an dem sie in der größten Metropole der Türkei Atem schöpfen, ihre eigene Kultur kennenlernen und weitergeben konnten.   

Es war aber auch die Zeit der großen Flucht.

Das ist richtig. Es waren Jahre, in denen Dörfer niedergebrannt, zerstört und geräumt wurden, in denen die Menschen in die Flucht gezwungen wurden, eine Zeit, in der die nackte Gewalt gegen die kurdische Bevölkerung ganz deutlich sichtbar war. Die Kurdinnen und Kurden brachten ihre Kultur auf der Flucht hierher mit. Sie kamen mit ihrer Widerstandskultur und dies spiegelte sich im NÇM wider.

Hüseyin „Genim“ Ildan

Gab es auch Repression?

Ja, das alles hatte seinen Preis, aber den nahmen wir in Kauf. Jede Person, die im NÇM ein- und ausging, nahm diesen Preis auf die eine oder andere Weise in Kauf. Für alle, die irgendwie Teil dieser Bewegung im NÇM waren, die darauf ihr Leben aufbauten, war das Risiko das Gleiche. Abends kam man möglicherweise nicht zu Hause an, verschwand im Polizeigewahrsam oder musste jahrelang im Gefängnis sitzen. All diese Sorgen sind lebendige Erinnerungen, die uns immer begleiten werden. Unsere Kolleginnen und Kollegen wurden vor unseren Augen festgenommen und gefoltert. Als Institution haben wir viele solcher Beispiele in den frühen 90er Jahren erlebt.

Wie würden Sie Ihre Verantwortung gegenüber dem kurdischen Volk beschreiben?

Als NÇM haben wir uns der Widerstandskultur verschrieben und geben diese an das Volk zurück. Wir haben die Volkskultur gesammelt, zusammengestellt und der Gesellschaft präsentiert. Bei dieser Aufgabe haben wir immer wieder einbezogen, was die Kurden wollen, was ihre Forderungen sind und welche Ideen vermittelt werden sollten. Aus soziologischer Perspektive betrachtet fragten wir uns, wie der neue kurdische Mensch sein sollte. Damals haben wir auch mit Filmarbeiten begonnen. Der Drehbuchautor Hüseyin Kuzu sagte, das NÇM sei ein revolutionärer Raum, wie er nicht besser hätte sein können. Auch die ersten „kurdischsprachigen“ Hochzeiten in Istanbul fanden in den 90ern statt. Die Menschen begannen auf den Konzerten auf Kurdisch zu singen. 1993 bewegte sich im Zusammenhang mit der DEP und dem politischen Prozess etwas mehr. In diesen Bereichen traten die Kurdinnen und Kurden mit ihrer eigenen Kultur vor ihr Volk. Eines der wichtigsten Mittel war die Vermittlung unserer im NÇM produzierten Kunst an das Volk. Es handelte sich um eine Zeit, in der viel Musik, Theater und auch malerische Kunst produziert wurde.

Wie begann Ihre musikalische Arbeit?  

Als wir anfingen, hatten wir keinen besonders individualistischen Ansatz, wir hatten ein kollektives Leben und ein kollektives Produktionsnetzwerk. Damals gab es einige Musikgruppen: Koma Amed, Koma Çiya, Koma Gulên Xerzan, Koma Rojhilat, Koma Mezra Botan. Auch Kindergruppen gab es. Viele dieser Bands haben sich zur gleichen Zeit gebildet. Freunde wie Hogir hatten wichtige Werte geschaffen, auf deren Grundlage das NÇM aufgebaut wurde. Wir haben, wie bereits erwähnt, all die Schmerzen in Kauf genommen. Damals waren die Menschen viel idealistischer. Sie waren stärker mit der Revolution verbunden und voller Hoffnung, dass die Revolution gewaltig und nah sei. Es war der Ort einer Generation, die niemals die Hoffnung aufgab.

Wie sehen Sie die heutige kurdische Musik?

Mittlerweile steht eine arabeske Kultur im Vordergrund, die revolutionäre Inhalte teilweise verdeckt. Das ging etwa Ende der Nullerjahre los. Es gibt viele Gründe dafür, man muss kritisch und selbstkritisch damit umgehen. Es sind die nachfolgenden Generationen, die uns ins Morgen tragen werden. Es ist wichtig, wovon sie sich nähren. Das ist auch im kulturellen Sinne so. Was nehmen wir ins Morgen mit, welche Kultur? Welche Kultur wird heute in Amed (Diyarbakır) oder Wan produziert, herrscht auf den Straßen das Kurdische oder das Türkische vor? Das Türkische herrscht vor. Das bedeutet, es findet kulturelle Erosion statt.

Die 90er Jahre sind für uns die Jahre der Renaissance der kurdischen Kultur, ihrer Sammlung und Vermittlung. Wir waren damals nach vielen Dingen hungrig, und es gab auch allgemein diesen Hunger, er wurde gestillt, aber am Ende haben die Kurd*innen nicht die richtige Frage gestellt. Die Frage liegt offen: wie können wir einen noch stärkeren Prozess organisieren und ihn in den Dienst der Revolution stellen? Auch wenn wir das unter dem Aspekt der kommunalen Verwaltung betrachten, so konnte sich der Multikulturalismus nie richtig etablieren. Er wurde nicht zugelassen. Auch beim NÇM müssen gesellschaftliche Bewertungen durchgeführt werden. Es besteht Bedarf nach einer guten Analyse.  

Das NÇM hat Tausende Werke in den verschiedensten Bereichen produziert. Was ist ihrer Meinung nach das Wichtigste?

Um die Jahrtausendwende haben wir ein paar sehr wichtige Projekte gegen die Assimilationspolitik durchgeführt. Eines davon war Şahiya Stranan [Eine Sammlung kurdischer Lieder]. Das war eine der wichtigsten Arbeiten, denke ich.

Sie haben von der revolutionären Hoffnung und dem Leid der 90er Jahre berichtet. Wie ist die Situation des NÇM heute?

Wenn wir es im Gesamtkontext betrachten, ist für diese Aufgaben ökonomische Stärke notwendig. Mit der Kraft der Überzeugung kann man etwas bis an einen bestimmten Punkt umsetzen. Die Arbeit, die ohne jede Erwartung auf Gegenleistung gemacht wird, ist unbezahlbar, aber ab einem gewissen Punkt nimmt die Überzeugung ab. Dann ist es notwendig, die wirtschaftliche Infrastruktur aufzubauen, und das gilt auch für die soziale Struktur. Das haben wir nicht ernst genug genommen. Also wie eine bessere Form von Beschäftigung stattfinden könnte, und wie wir das unter uns verwirklichen. Wenn wir den Kulturbereich betrachten, ist es das größte Problem, das wir geschaffen haben. Wir haben Räume geschaffen, es gibt dort zwar Menschen, aber wir haben keine Arbeitsplätze für diese Menschen geschaffen. Unser Hauptproblem ist, dass wir mit unserem Status im Grunde keine soziale Sicherheit haben. Wir haben auch keine verfassungsrechtliche Absicherung. An alldem müssen wir arbeiten. Wir haben keine eigene Gerechtigkeit geschaffen. Was für ein Recht sollen wir unter uns in all der Ungerechtigkeit aufbauen? Ich spreche hier von institutionellem Recht. Dieser Staat hat uns keinerlei Absicherung gegeben. Das vergessen wir manchmal. Und weil wir das tun, sind wir nicht in der Lage, uns neu zu schaffen.