Koma Amed, die Blume der Freiheit und Evdilmelik Şêxbekir

1987 verließ Evdilmelik Şêxbekir seine nordsyrische Geburtsstadt Amûdê und ging in die Türkei, um Medizin zu studieren. Mit seinen Freunden von der Uni gründete er die Band Koma Amed. An einem Tag im Mai 1992 starb er als Guerillakämpfer auf dem Engizek.

„Tu kulîlka azadî yî (Du bist die Blume der Freiheit)

Strana welatê me yî (Du bist das Lied unserer Heimat)

Hespê şeh î dibezî (Das Pferd des Königs rennt)

Çîyan û zinaran, bira (Die Berge und Felsen sind Brüder)”*

„Revolutionär ist, wer sein Schicksal selbst bestimmt“, schrieb einmal ein irischer Dichter. Ist die Rede von rebellischen, revolutionären Künstlern, bestimmen sie nicht nur ihr eigenes Schicksal; sie leben es. Sie teilen ihr Leben, vervielfältigen sich im Dasein anderer und hinterlassen uns ein verpflichtendes Erbe. Wir folgen ihnen, finden sie und verschmelzen mit ihnen zu einer Einheit.

Denn jedes Stück Erde, das dem Menschen eine Seele einhaucht, hat seine eigene Melodie; es ist die Erde, auf der wir geboren wurden, aufwuchsen, sie unter unseren Füßen spüren, ihren Duft tief in uns hineinsaugen. Ihr lauwarmer Klang ist es, der sich von unseren Ohren den Weg in unsere Seelen bahnt, uns antreibt, wachsen lässt, uns umwickelt, von der Vergangenheit in die Zukunft trägt.

An dieser Stelle wird die Geschichte einer Stimme erzählt. Eine Stimme, die uns mit dem Klang von Erde, der Geschichte, Überzeugungen, Schmerzen, Verlusten und Utopien umschlingt. Für seine Familie und Freunde war er Melek (türk. Engel), für seine Weggefährten Doktor Cuma und Şengal. Ich rede von Evdilmelik Şêxbekir, dem Gründer und Solisten von Koma Amed.

Im Inneren jedes Menschen, der zum ersten Mal „Kulîlka Azadiyê“ (kurd. Die Blume der Freiheit) vernimmt, hallt ein entschlossener, weiser, hinreißender, trauriger Klang. Ein Engel erscheint und wird Gast im Zauber eines Flusses, der in die Herzen fließt.

Auf der Suche nach einem Engel

Der Spur der Stimme in meinem Gemüt folgte ich so weit es dieses von der Melancholie dieses Klangs verzauberte Land zuließ. Die leidvolle Seite der Suche, die wie ein Kloß tief in meinem Hals steckte, umhüllte mich wie einen Trauervorhang, den ich beiseiteschob. Ich nahm meinen Weg, als würde ich einer schönen Brise der Freiheit folgen, nach der ich mich sehnte, von der ich träumte und auf die ich hoffte.

Zigmal saugte ich die Stimme von Melek tief in mich ein, als würde ich die mystische Luft eines magischen Waldes atmen. Ich weiß nicht, wie oft ich den bezaubernden Klängen in Meleks Liedern lauschte. Ich wollte sie suchen, finden, sie verstehen und sammeln.

Es muss der Sinn des Lebens sein und das, was das Leben erzählen will, als ich an einem sonnigen Maitag inmitten eines aufkeimenden Frühlings Meleks Familie traf – 28 Jahre nach seinem Abschied von dieser Welt. Mein ständiger Wunsch war es gewesen, eine Spur dieses Menschen, dessen Stimme mich schon immer faszinierte, stets in meinem Leben begleitete und die ich bewunderte, zu finden und jemandem, der ihn persönlich kannte, zuzuhören.

Als ich hörte, dass seine Schwester in Qamişlo lebt und ebenfalls Ärztin ist, machte ich mich ohne Zeit zu verlieren auf den Weg zu ihrer Klinik. Nach einer Viertelstunde Wartezeit wurde ich aufgerufen. Während sie eine Patientin erwartete, war ihr nicht klar, dass ihre Wunde der Trauer, die all die Zeit nicht schließen konnte, gleich wieder bluten würde. Ein wenig schüchtern, mit einer Prise Neugier sagte ich: „Sie sind die Schwester von Melek. Ich bin gekommen, damit Sie mir von ihm erzählen.“ Kaum hatte sie den Namen von Melek vernommen, stürzten ihr die Tränen aus den Augen. In diesem Augenblick wurde ich der beißenden Realität gewisser Wunden bewusst, die die Zeit nicht heilen kann, aus denen stets Schmerzen blühen, und die Sehnsucht im Herzen nie enden lassen. Es war unsere erste Begegnung, aber ihre Tränen glichen dem Gewicht einer gemeinsamen Vergangenheit. Deshalb brachte weder Samer ein Wort über ihre Lippen, noch ich. Wir vereinbarten lediglich den Zeitpunkt für unser nächstes Treffen und verabschiedeten uns voneinander.

Eines Tages kommt Melek nach Hause

„Ich träume immer wieder davon, dass Melek in unser Haus in Amûdê zurückkehrt, aber niemanden vorfindet. Damit sich meine Träume nicht bewahrheiten, ließen wir das Haus nie unbewohnt. Im Geburtshaus von Melek, wo er aufwuchs und lebte, bis er ging, wohnen jetzt Verwandte von uns. Ich habe immer noch die Hoffnung, dass er eines Tages zurückkommen wird.“

Das waren die ersten Worte von Meleks Schwester, als wir uns zum zweiten Mal begegneten. In Gedanken ist Samer ständig bei der gemeinsamen Zeit, die sie und Melek verbachten, so scheint es mir. „Habe ich ihn oft verletzt, ihm wehgetan? Waren die Momente zu selten, in denen ich ihn innig umarmte? Habe ich ihn zu selten geküsst? Das sind die Fragen, die ich mir sehr oft stelle.“ Alles Unvollendete zwischen den beiden hat sich in Samers Seele in eine tiefe Wunde verwandelt.  

„Melek war zwei Jahre jünger als ich. In der Schule war er sehr erfolgreich, das Gymnasium schloss er als Bester ab. Zum Studium entschied er sich, in die Türkei zu gehen. Bei der Aufnahmeprüfung erreichte er 98 von 100 möglichen Punkten. Innerhalb von nur zwei Monaten hatte er Türkisch gelernt. Seine Freunde waren sehr beeindruckt. Er schrieb sich an der medizinischen Fakultät der Hacettepe-Universität in Ankara ein. Da waren wir das erste Mal für eine lange Zeit voneinander getrennt. Wir hatten nicht die Möglichkeit, ihn zu besuchen, deshalb versuchten wir über unsere Verwandtschaft in der Türkei, den Kontakt aufrechtzuerhalten.

Einmal erhielt mein Vater einen Anruf von einem Verwandten. Er sagte, dass Melek nicht mehr zur Uni gehe. Wir fragten eine Weile hier und da nach, bis wir schließlich in Erfahrung brachten, dass er an die medizinische Fakultät der Universität Istanbul gewechselt hatte. Neben seinem Studium arbeitete er auch. Er wollte nie, dass wir ihm Geld schicken.“

Die letzte Postkarte

Samer holt tief Luft. So tief, als wolle sie der ganzen Welt verraten, wer Melek war. Mit Hektik und Wehmut erzählt sie von alldem, was in ihrer Erinnerung an ihren Bruder geblieben ist: „Es war an einem Sommertag im Jahr 1991, als er nochmal nach Hause kam. Es war sein letzter Besuch bei uns. Er ging weg und wir hörten nie wieder etwas von ihm. Der Altersunterschied zwischen uns beiden war gering, ich war in unserer Familie diejenige, die Melek immer am nächsten stand. Alle zehn bis fünfzehn Tage schrieb er mir einen Brief, ich bewahre sie noch heute auf. Zuletzt erhielt ich eine Postkarte von ihm. Auf dem Motiv war eine Frau in Szene gesetzt, die im Meer stand und weinte. Nur ihr Kopf war zu sehen. Meine Gefühle überwältigten mich beim Anblick dieser Karte. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen.

Am nächsten Morgen teilte ich meiner Familie mit, dass ich mich auf die Suche nach Melek machen würde. Ich fuhr zuerst nach Ankara, von dort aus weiter nach Istanbul und schaute bei all seinen Freunden vorbei. Sie erzählten mir, Melek hätte bereis sein Studium abgeschlossen und würde erfolgreich als Arzt arbeiten. Der eine hatte ihn zuletzt vor zehn Tagen gesehen, der andere vor zwanzig Tagen. Ich ging zum Sekretariat der Uni. Dort erfuhr ich, dass Melek Anfang September noch an zwei Prüfungen teilgenommen hatte, danach aber nicht mehr beim Unterricht war. Ich war erst gegen Ende Oktober in die Türkei gefahren. Seine Freunde behaupteten, nichts von seinem Aufenthaltsort zu wissen. Irgendwann sagte ein Arbeitskollege von ihm, Melek sei in die Berge gegangen. Er beruhigte mich: ‚Melek weiß, dass du hier bist. Wir haben ihm bescheid gesagt. Er wird kommen‘. Tagelang habe ich gewartet, in der Hoffnung, dass er sich blicken lässt. Aber Melek kam nicht. Ich guckte immerzu auf die Postkarte mit der weinenden Frau. Etwa fünf bis sechs Jahre später sagte man uns, dass er gefallen ist. Wir konnten das gar nicht glauben. Noch heute fällt es uns schwer, uns von seinem Verlust zu überzeugen. Wir haben seine Knochen nicht. Möglicherweise liegt es daran.“

Der Wunsch von Samer

Die deutlichste Erinnerung an ihren Bruder Melek sei seine Liebe zum Mutterland gewesen, erzählt Samer. „Er fühlte sich tief verbunden zum kurdischen Volk und Kurdistan. Ohne zu zögern hätte er sein Leben gegeben. Melek konnte Unrecht nicht ertragen. Das syrische Baath-Regime lehnte er ab. Die meisten seiner Freunde waren in den Kerkern des Regimes gelandet, als Melek in der Türkei war. Er selbst wurde ebenfalls gesucht, da er aber nie länger als ein paar Tage blieb, wenn er uns besuchte, konnten sie ihn nicht schnappen.

In dem Jahr, als Melek uns verließ, hatte ich gerade meine Klinik eröffnet. Kurz vor seiner Abreise bat er mich um eine Tasche. Ich aber sagte ihm: ‚Du brauchst keine weitere Tasche, die jetzige ist fast neu.‘ Melek küsste mich als er ging, umarmte mich, aber aus irgendeinem Grund spürte ich, dass er mir gegenüber bedrückt war. Es ist in meinem Inneren geblieben. Ich bereue es immer noch sehr, wenn ich darüber nachdenke, warum ich ihm damals keine neue Tasche gekauft habe. Seitdem habe ich keinen Wunsch meiner Geschwister unerfüllt gelassen. Ganz gleich, ob es sich dabei um etwas drängendes handelte oder nicht. Ich ertrage den Gedanken nicht, dass sie mir etwas übelnehmen könnten.“

Samer drückt den Wunsch aus, der ihr schon so lange in der Seele brennt: Am liebsten hört sie Kulîlka Azadî und Newroz, aber sie wünscht sich, dass alle Lieder von Melek mittels neuer Studiotechnik in neuem Glanz einem Publikum präsentiert werden.

Die Holztruhe von Dayê Êdê

„Berge kommen nicht zusammen, aber Menschen. So lautet ein Sprichwort. Ich habe immer auf Melek gewartet, meine Hoffnung nie aufgegeben. Bis jetzt ist er nicht gekommen. Ich warte noch immer.“ - Dayê Êdê.

Als ich Samer sagte, dass ich Meleks Eltern gerne sehen würde, machten wir uns gemeinsam auf den Weg zu ihnen. Es war Dayê Êdê, die uns begrüßte. Mit ihren 85 Jahren kümmert sie sich liebevoll um ihren Weggefährten, der an Alzheimer erkrankt ist. Meleks Vater hat viele Dinge über die Vergangenheit vergessen. Dass er vom Regime verfolgt wurde, in den berüchtigten Gefängnissen inhaftiert war. Das einzige, was in seiner Erinnerung geblieben ist, ist sein Sohn. Es muss dieses Phänomen sein, wenn Liebe und Sehnsucht das Bewusstsein dominieren. Selbst wenn der Verstand abnimmt, bleibt immer jemand übrig, den das Herz nicht vergisst. „Seht ihr, das ist mein Sohn“, sagt er zu Menschen, die an seinem Haus vorbeigehen, und zeigt auf die Fotos von Melek in seiner Hand.

Über Frauen sagen wir, dass sie unser Gedächtnis, unsere Geschichte und unser Verstand sind. Dayê Êdê begegnet mir als eine Behüterin der Erinnerung. Sie bewahrt alle Habseligkeiten von Melek und Erinnerungsstücke sorgfältig in einer Holztruhe auf. Eine Kassette von „Kulîlka Azadiyê“ der Band Koma Amed, ein Fotoalbum, Bücher, Zeitschriften…  All die Dinge, die Meleks Hände und Augen berührten, alles, was von seiner verzaubernden Stimme übrig geblieben ist, liegt in der Holztruhe von Dayê Êdê.

Als Vogel in meinem Traum

Als sie das Album mit den Fotos von Melek behutsam aufschlägt, beginnt Dayê Êdê zu erzählen. Ihre von Tränen erstickte Stimme lässt kein einziges Detail aus: „Als Kind war er oft krank. Ich brachte ihn immer zu einem Arzt hierher nach Qamişlo. Nach vier Töchtern kam Melek auf die Welt, deshalb liebte ich ihn auf eine besondere Art. Er war ein verwöhntes Kind, ich trug ihn immer auf Händen. Bis zum Alter von sieben Jahren schlief er in meinem Zimmer.

Unser Haus hatte zwei Etagen. Meleks Zimmer war im oberen Geschoss. Wenn seine Freunde kamen, warfen sie kleine Steine an seine Fensterscheibe. Er ging dann runter und gab ihnen Zeitschriften zum Lesen. Einmal bekam ich die Steinwürfe mit. Ich stieg die Treppen nach oben und ging in sein Zimmer. Ich war neugierig und wollte wissen, was er macht. Ich riss die Tür auf und da saß er an seinem Tisch, den Kopf über ein Schulbuch gebeugt. Darin lag eine Zeitschrift. Ich sagte ihm immer, dass es zu wenig Ärzte unter ihnen gebe und er zuerst seine Schule beenden sollte. Danach könne er machen, was er wollte. Er antwortete aber immer: ‚Wie soll Kurdistan ohne Gefallene befreit werden?’

Einmal ließ sich Melek in der Gestalt eines Vogels in meinem Traum blicken. Ich folgte ihm, versuchte, ihn zu fangen. Aber es gelang mir nicht, er flog weg. Da habe ich verstanden, dass er nicht mehr zurückkehrt.”

Aber auch an witzige Anekdoten im Leben von und mit ihrem Sohn erinnert sich Dayê Êdê nur allzu gut: „Er hatte mal ein Bild von Ernesto Che Guevara gezeichnet, es hing an der Wand. Als wir unsere christlichen Freunde zu Gast hatten, fragten sie, wer das auf dem Bild sei. Melek antwortete ‚Ach, das ist mein Onkel.‘“

Nach 28 Jahren voller Sehnsucht sprechen Dayê Êdê und Samer zum ersten Mal über den Helden dieser Geschichte, Evdilmelik Şêxbekir. Das nicht abklingende Verlangen von Dayê Êdê, ihren Sohn noch einmal zu sehen, sprengt jedes Wort und ist schwer an Gewicht. Ihr Engel ist zum Anfassen nah und lebendig, in ihrem Herzen. Sie seufzt tief auf, so, als würde es kilometerweit noch zu hören sein, und beendet das Gespräch mit einer Wehmut, die aus der Trauer schlüpft, in die sie seit Meleks Abschied verfallen ist: „Der Schmerz um Melek ist immer da. Erst wenn ich sterbe und unter der Erde liege, wird er vergehen.“

Allen, die sich dem Bann von Zauber und Magie in der Stimme von Evdilmelik Şêxbekir ergaben und mit ihr den eigenen Weg fanden, war ich diesen Artikel schuldig. Und auch jetzt ertönt das Lied Kulîlka Azadiyê. Ich setze meinen Weg mit einer schönen Brise der Freiheit fort.

Evdilmelik Şexbekir

Evdilmelik Şexbekir wurde 1968 in der nordsyrischen Stadt Amûdê geboren. 1987 verließ er Rojava und ging zum Studium nach Ankara in die Türkei. Nebenbei machte er Musik, malte Bilder und schrieb Gedichte. 1988 gründete er mit einer Gruppe von Freunden, bei denen es sich größtenteils um Studenten handelte, Koma Amed. Die Band zählt zu den Begründern einer neuen Schule kurdischer Musik. 1990 zog Şexbekir nach Istanbul, im selben Jahr erschien mit „Kulîlka Azadiyê“ das erste Album von Koma Amed.

Neben der Kunst galt Evdilmelik Şexbekirs Interesse vor allem der Politik. Trotz staatlicher Unterdrückung widmete er sich entschlossen dem Ziel, die Entwicklung der kurdischen Sprache und Kultur zu fördern und leistete einen großen Beitrag zur Grundsteinlegung des in Istanbul gegründeten NÇM (Navenda Çanda Mezopotamya, türk. Mezopotamya Kültür Merkezi – MKM), das Mesopotamische Kulturzentrum. Im September 1991 schloss sich Evdilmelik Şexbekir dem kurdischen Befreiungskampf an und ging zur Guerilla. Nur wenige Monate später, im Mai des darauffolgenden Jahres fiel er auf dem Engizek, einem Berg in der Provinz Gurgum (türk. Maraş), im Kampf gegen die türkische Armee.

*Kulîlka Azadiyê ist die kurdische Übersetzung des Gedichts Özgürlük Çiçeğimsin des türkischen Schriftstellers, Publizisten und Verlegers Muzaffer Ilhan Erdost (1932-2020). Erdost schrieb das Gedicht für seinen Bruder, der 1980 im Militärgefängnis Mamak an den Folgen von Folter starb.