Seit Jahrtausenden bedient sich der Mensch der Kunst als Ausdrucksmittel. Die Kunst hat zu jeder Zeit der Menschheitsgeschichte existiert. In jeder Periode der gesellschaftlichen Entwicklung spiegeln sich die Spuren der jeweiligen Epoche wider.
Wie bei allen Völkern der Welt sind auch im kulturellen Gefüge des kurdischen Volkes die Spuren der gesellschaftlichen Entwicklung und der dafür durchlaufenen historischen Prozesse zu erkennen, aber auch die Spuren des Kolonialismus.
In der Geschichte der kurdischen Kunst finden wir die Spuren der Vergangenheit bis zur Gegenwart in der Dengbêj-Kultur, der traditionellen Erzählkunst des kurdischen Volkes. Dengbêj (Barden) werden im Kurdischen die Sängerinnen und Sänger genannt, die historische Begebenheiten und Mythen in einem für die Dengbêj-Kunst spezifischen Sprechgesangsstil vortragen. Obwohl sich die Dengbêj zu Zeiten der kurdischen Adelsherrschaft - auch wegen ihrer Stammesstruktur - fast ausschließlich mit den Problemen oder Heldentaten der Feudalherren und Emire, also der damaligen Elite befassten, haben sie die Umbrüche in Kurdistan, die Massaker, Aufstände und individuelle Heldentaten bis in die Gegenwart getragen.
Kurdischer Befreiungskampf: Die Sozialisierung der kurdischen Kunst
Mit dem Nationalbewusstsein und der Organisierung des Freiheitskampfes gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurden Lieder und Märsche komponiert, die Prozesse der Revolution und Hindernisse des Freiheitskampfes beschreiben, nach Lösungen suchen, den Widerstand organisieren und die Sympathien der Gesellschaft zur Revolution kanalisieren. Mit anderen Worten; die Kunstschaffenden, die diese Prozesse richtig deuten konnten, beschäftigten sich nicht mit den Sorgen der Eliten, sondern legten ihren Fokus auf die Probleme der Gesellschaft. Die Folge war die Sozialisierung der Kunst.
Zu den Stücken, die den Widerstand des kurdischen Volkes organisierten und seitdem jede Aktion, jeden Protest und jede Gedenkfeier der kurdischen Befreiungsbewegung begleiten und dabei von allen Anwesenden aus einem Munde gesungen werden, gehört auch der Marsch „Çerxa Şoreşê“ (Das Rad der Revolution) von dem aus Efrîn/Rojava stammenden Sänger Xelîl Xemgîn. Die Todesfälle innerhalb der kurdischen Bewegung in den Jahren 1987-1988, der Kampf in den Gefängnissen, der große Widerstand in den Bergen Bagok und Bênavok, das Massaker von Halabja, all diese Begebenheiten lenkten den Inhalt von Çerxa Şoreşê.
Revolution: Kollektive Aktion der Massen
Zu der Zeit befand sich Xelîl Xemgîn in Griechenland. Auf einer Kundgebung sang er auf Drängen von Haydar Eroğlu das erste Mal dieses Stück, das damals lediglich aus einem Vierzeiler bestand. Der Marsch stieß beim Publikum auf große Begeisterung. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis alle Menschen mit einstimmten.
Revolution ist eine kollektive Aktion der Massen. Der damalige Gefängniswiderstand, die Leidenschaft von Haydar Eroğlu, all die erbrachten Mühen aber auch ideologischen Aspekte verwandelten sich meist in revolutionäre Aktion, aber manchmal auch in Stücke wie Çerxa Şoreşê.
Eigentlichen Macher von Çerxa Şoreşê: Protagonisten des Freiheitskampfes
Das, was vom Gefängniswiderstand in eine revolutionäre Aktion mündet und von dort aus in solch ein Stück übergeht, ist nichts anderes als der revolutionäre Geist selbst. Denn im Verlauf einer Revolution ist keine Aktion von einer anderen getrennt, sondern hat eine dialektische Verbindung, wie in der Natur. So wie ein Flügelschlag eines Schmetterlings in einem anderen Teil der Welt zu Sturmwinden führen kann, kann in der Dialektik der Revolution aus einer Kugel, die ein Freiheitskämpfer gegen den Kolonialismus abgefeuert hat, ein Lied eines Barden werden. Ich glaube, dass dieses Werk von allen Dynamiken und Organen der Revolution gemeinsam geschaffen wurde. Xelîl Xemgîn sagt, die eigentlichen Macher von Çerxa Şoreşê seien die Protagonisten der anspruchsvollen Phase des Freiheitskampfes. Daher ist jedes kollektive Stück oder jede kollektive Aktion revolutionär und kanalisiert eine Antriebskraft für die Revolution.
Çerxa Şoreşê erfährt heute dieselbe Aufmerksamkeit wie zu Zeiten der Entstehung
Auch sind es revolutionäre Persönlichkeiten, Kunstschaffende und Helden, die Revolutionen lenken. Die Märsche spielen dabei ihre ihnen zugetragene Rolle und nehmen ihren Platz in der Geschichte ihrer eigenen Revolution ein. Das Stück Çerxa Şoreşê erfährt von den Kurden, die einen Kampf für Freiheit führen, auch heute noch dieselbe Aufmerksamkeit wie zu Zeiten seiner Entstehung. Damit ein künstlerisches Werk vom Volk angenommen werden kann, muss sich der Künstler spirituell in die Revolution eingliedern, mit dem revolutionären Auferstehungsprozess Schritt halten und synchron mit dem Umschwung sein. Das Werk Çerxa Şoreşê kann nur in einer solchen Phase entstanden sein.
Im Original erschien der Artikel von der Künstlerin Deniz Deman am 31.10.2018 unter dem Titel „Çerxa Şoreşê hîna digere!” auf der Homepage des Kulturmagazins PolitikArt.