„Tartuffe“ von Molière in Mêrdîn verboten

Das Gouverneursamt für Mêrdîn hat eine Aufführung der kurdischen Interpretation des Theaterstücks „Tartuffe“ von Molière verhindert. Das Stadttheater Amed ist empört und sieht in der Maßnahme eine Kriminalisierung der kurdischen Sprache und Kultur.

Das Gouverneursamt für die Provinz Mêrdîn hat eine Aufführung der kurdischen Interpretation des Theaterstücks „Tartuffe“ untersagt. Als Begründung zog die Behörde das Aktivitätsverbot im öffentlichen Raum heran, das im Abstand von 15 Tagen wegen vermeintlicher „Sicherheitsbedenken“ routinemäßig erneuert wird. Die Mitglieder des Stadttheaters von Diyarbakır (ku. Amed), die das Stück am Sonntagabend aufführen sollten, sind empört: „Wir sehen in diesem Schritt eindeutig den Versuch, die kurdische Sprache und Kultur zu kriminalisieren und zu verbieten. Ähnliche Veranstaltungen finden nahezu täglich in Mêrdîn statt und fallen nicht unter das Aktivitätsverbot.“

Mit Bedauern gaben die Schauspielerinnen und Schauspieler zudem bekannt, die Aufführung des Stücks in Mêrdîn bis auf weiteres gänzlich abgesagt zu haben. Da die benötigte Genehmigung durch das Gouverneursamt nicht erteilt wurde, habe sich zwischenzeitlich auch die Polizei eingeschaltet. Daraufhin löste das Hotel, in dem das Stück dargestellt werden sollte, den Vertrag mit dem Ensemble aus Amed auf. „Wir gehen davon aus, dass Druck ausgeübt worden ist. Andernfalls wäre uns sicherlich ein Alternativtermin gegeben worden“, so das Stadttheater.

Tartuffe - offener Angriff auf einen heuchlerischen Klerus

„Tartuffe“ des Dramatikers Molière ist die meistgespielte französische Komödie aller Zeiten. Die Uraufführung 1664 im Versailler Schloss löste einen Theaterskandal aus und zog ein sofortiges Aufführungsverbot nach sich. Denn hochkomisch und gallenbitter entfaltet Molière ein Kaleidoskop schlimmer Eigenschaften und reißt den Menschen schonungslos die Maske ab: Tartuffe, der sich eingenistet hat im Hause der Familie Orgon, ist ein Betrüger. Ein Heuchler, der sich der Maske der Frömmigkeit bedient. Er inszeniert sich zum Schein als Heiliger und bringt die Scheinheiligkeit seiner Umgebung zum Vorschein. Er ist ein Lügner der seine Macht und Verführungskraft nicht aus der perfekten Tarnung, sondern aus der dreisten Offensichtlichkeit seiner bösen Absichten bezieht. Was macht die einen für diese Art Autorität so empfänglich und die anderen, die das Spiel zu durchschauen meinen, so fassungslos hilflos? Was passiert, wenn jeder das zur Wahrheit erklärt, was er hören will? Im Hause Orgon sind es der Hausherr und seine Mutter, Madame Pernelle, die dem Charisma Tartuffes verfallen und alles herzugeben bereit sind, was dieser Mann Gottes – in offener Missachtung des Gottesgebotes – an Geld und Haus, Tochter und Ehefrau seines Gastgebers begehrt.

Erinnerungen an das Verbot von „Bêrû“ werden wach

Zu Molières Zeiten war „Tartuffe“ ein offener Angriff auf einen heuchlerischen Klerus, der nicht nur zeitweilig zu Aufführungsverboten führte, sondern auch dazu, dass dem Stand der Schauspieler:innen der Empfang der Sakramente verweigert wurde. Heute, in Zeiten der kriselnden Fakten, bleibt das Stück auch über 350 Jahre später eine intelligente und scharfe Satire auf die Gegenwart. Eben deshalb wirkt das Vorgehen der türkischen Behörden in Mêrdîn wie eine Tragikomödie – und erinnert an das Verbot des Theaterstücks „Bêrû“ (Gesichtslos). Dabei handelt es sich um die kurdische Adaption von „Hohn der Angst“ des italienischen Nobelpreisträgers Dario Fo. Das Stück der Istanbuler Theatergruppe Jiyana Nû (Neues Leben) wurde im vergangenen Jahr in der Türkei als „PKK-Propaganda“ verboten.