Fast schon zur Routine gehören in der Türkei Verbote kritischer Bücher, insbesondere Werke von kurdischen Literaturschaffenden oder mit Kurdistan-Bezug. Oftmals gelten sie sogar als Beweismittel für angebliche Straftaten: Neuestes Opfer: Figen Yüksekdağs „Yıkılacak Duvarlar“ (dt. Die Mauern werden einstürzen), ein im Gefängnis verfasster Gedichtband der seit 2016 inhaftierten HDP-Politikerin. Ein Gericht in Antalya hat es nun verboten, Ausgaben davon dürfen seit Donnerstag nicht mehr verkauft werden. Im nächsten Schritt sollen Buchhandlungen, der herausgebende Verlag und Online-Versandhändler für Bücher von Vertretern der Staatssicherheit aufgesucht werden, um alle verfügbaren Gedichtbänder zwecks Vernichtung zu konfiszieren. Der Vorwand lautet, das Buch diene als Mittel der Propaganda für eine „Terrororganisation“.
„Yıkılacak Duvarlar “ erschien 2020 im Istanbuler Verlag Ceylan. In dem Buch es um Widerstand, Liebe und den unerschütterlichen Glauben an Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit. Unter anderem lässt Yüksekdağ die „33 Traumreisenden“, wie die Toten des IS-Anschlags von Pirsûs (tr. Suruç) 2015 genannt werden, auf Taybet Inan treffen. Die Kurdin, die vielen als „Mutter Taybet“ in Erinnerung geblieben ist, wurde während der Militärbelagerung im Dezember 2015 in Silopiya erschossen. Ihr Leichnam lag sieben Tage lang auf der Straße, da die Armee sämtlichen Rettungskräften die Bergung verweigerte. Angehörige und Nachbarn wurden bei dem Versuch, den Leichnam der 57-jährigen Mutter von elf Kindern zu bergen, beschossen.
Als konkrete Begründung für das Verbot des Buches wählte die türkische Justiz eine Zeile des Gedichts „Bulutlu Başım“ (dt. Mein trüber Kopf) aus. „Die Menschheit windet sich am Rande des Nichts, während die Keller brennen, mit Dunkelheit in Brand gesteckt, die Babys in den einsamen Häusern, hingerichtet mit Kopfschüssen“ – Yüksekdağ kleidet damit die Zustände in den „Todeskellern von Cizîr“ in Worte. Der Ausdruck steht für eine Reihe von Massakern, die das türkische Militär am 7. Februar 2016 in der nordkurdischen Stadt Cizîr verübte – in Wohngebäuden, in denen etliche Menschen während der Militärbelagerung Schutz vor den Kriegsverbrechen des türkischen Staates suchten. Laut Berichten von Menschenrechtsorganisationen sind 177 der mindestens 288 Todesopfer in Cizîr in den „Kellern des Grauens“ ermordet worden. Während in einigen Kellern die darin schutzsuchenden Personen verbrannt wurden, als das Militär Benzin in die mit Menschen gefüllten Keller leitete, erstürmten türkische Truppen andere Keller und erschossen die Anwesenden.
Dass Figen Yüksekdağ diese Verbrechen in einem Gedicht aufgreift, bedeutet nach Ansicht des Gerichts: „Es wurde ausschließlich für den Zweck geschrieben, die organisatorische Existenz der Terrororganisation PKK/KCK aufrechtzuerhalten und die Unterstützung großer Massen zu gewinnen.“ Im Satz „(…) die Babys in den einsamen Häusern“ sieht die türkische Justiz die „Verherrlichung von Mitgliedern der Terrororganisation“. Der Ceylan-Verlag kommentierte das Buchverbot mit den Worten: „Diese Gedichte haben längst jede Mauer überwunden. Wir betonen, dass wir keine Kompromisse mit denen eingehen werden, die solche Entscheidungen unter dem Deckmantel des Rechts entscheiden. Ganz gleich unter welchen Bedingungen, ob Gedichte, revolutionäre Romane oder theoretische Roadmaps – unser Verlagskollektiv wird seine Werke mit den Leserinnen und Lesern teilen. Mit Widerstand, mit lebendiger Hartnäckigkeit.“
Wer ist Figen Yüksekdağ?
Die 1971 in Adana geborene Figen Yüksekdağ ist Mitgründerin der Sozialistischen Partei der Unterdrückten (Ezilenlerin Sosyalist Partisi, ESP) und war bis September 2014 deren Vorsitzende. Nach der Niederlegung ihres Amtes trat sie zur HDP über. Noch im gleichen Jahr schloss sich die ESP der als Dachpartei mehrerer Kleinparteien fungierenden HDP an. Auf dem zweiten HDP-Kongress wurde Figen Yüksekdağ am 22. Juni 2014 zur Ko-Vorsitzenden gewählt.
Zeitgleich mit Selahattin Demirtaş und zahlreichen weiteren HDP-Abgeordneten wurde Figen Yüksekdağ am 4. November 2016 auf Betreiben des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan verhaftet. Seitdem befindet sie sich im Hochsicherheitsgefängnis Kandıra in der westtürkischen Provinz Kocaeli unter Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft. Sie ist eine von insgesamt 108 Angeklagten, denen im sogenannten Kobanê-Verfahren wegen staatsfeindlicher Umtriebe, Mord und versuchtem Mord in dutzenden Fällen im Zusammenhang mit den Kobanê-Protesten im Oktober 2014 mehrmals erschwerte lebenslange Haft droht.