Welche inneren Widersprüche treiben das türkische AKP-Regime zu immer neuen Gewalttaten und welche politischen Konflikte gingen dem Überfall auf Rojava im Oktober 2019 voraus? Unter dem Titel „Die Krise der AKP und der Angriff auf Rojava“ hatte das Tatort-Kurdistan-Café in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung für Mittwoch zu diesem Thema den Politologen und Publizisten Max Zirngast ins Centro Sociale nach Hamburg eingeladen.
Zirngast lebte im Rahmen eines Studiums über vier Jahre in der Türkei, wurde dort 2018 verhaftet und verbrachte fast vier Monate in Untersuchungshaft. Er führte in seinem Vortrag sowohl die antikurdische Kriegspolitik als auch die schleichende Faschisierung in der Türkei auf das Bedürfnis des AKP-Regimes zurück, sich angesichts einer schwindenden Machtbasis auf heterogene politische Bündnispartner zu stützen und gleichzeitig jedes potentielle Oppositionsbündnis zu spalten.
AKP einzig durch kurdische Bewegung und Gezi in Frage gestellt
Zirngast benannte in seinem Vortrag die Bewegungen, in denen die Länder des östlichen Mittelmeerraums sich befinden, als lokale Dimension einer globalen Krise, die das Weltsystem nach der Finanzkrise nach 2007 ergriffen habe. Diese habe die Hegemonie des Akkumulationsregimes erschüttert und lokalen Akteuren Freiräume zur Machtpolitik eröffnet.
Die Machtübernahme des AKP-Regimes als islamistisch-kapitalistische Synthese bedeutete laut Zirngast eine Überwindung der etatistisch erstarrten türkischen Gesellschaft nach dem Putsch von 1980 und eine erfolgreiche Kombination von ökonomischem Neoliberalismus mit islamischem Konservativismus unter wohlwollender Förderung Europas und der USA. Dessen erfolgreiche Herrschaft sei von außen einzig durch die kurdische Bewegung und durch die demokratisch-pluralistische Gezi-Bewegung in Frage gestellt worden.
Für die Machtbasis der AKP ebenso relevant sei jedoch von innen der Bruch mit der zuvor verbündeten Gülen-Bewegung gewesen. Durch diesen habe die AKP nach neuen innenpolitischen Verbündeten suchen müssen und sie im Parlament in der rechtsextremen MHP, in Militär und Verwaltung im faschistischen Ergenekon-Netzwerk gefunden. Nach dem gescheiterten Putsch von 2016 ziele die Innenpolitik der AKP darauf, diese instabile Machtbasis durch eine Faschisierung von Staat und Gesellschaft zu stabilisieren.
Antikurdische Gewaltkampagne Antwort auf jede Wahlniederlage
Zirngast identifizierte Ultranationalismus und Härte gegen die kurdische Freiheitsbewegung als die verbindenden Elemente dieser ungleichen Allianz und erklärte so auch die seitdem anhaltende Gewaltspirale, in die der türkische Staat sich befinde. Nachdem Erdogan mit Rücksicht auf seine neuen Verbündeten den Friedensprozess mit der PKK aufgekündigt habe, folge auf jede Wahlniederlage und jede Erschütterung der Machtbasis eine antikurdische Gewaltkampagne, so wie bei den Parlamentswahlen 2015 und dem Städtekrieg in Nordkurdistan (Südosttürkei).
Auch den Angriff des türkischen Staates auf die Selbstverwaltungsgebiete in Nordsyrien sah Zirngast vor allem als innenpolitisches Manöver Erdogans, um einerseits dem von Spaltung betroffenen Koalitionspartner MHP Aufwind zu verschaffen und ein mögliches Oppositionsbündnis zwischen pro-kurdischen und nationalistisch-kemalistischen Kräften zu spalten.
Als potentielle Grenzen dieses gewaltsamen Faschisierungsprozesses nannte Zirngast neben außenpolitischen Akteuren und der kurdischen Bewegung die 2013 in der Gezi-Bewegung vereinten Gesellschaftsgruppen, von Frauen über religiöse Minderheiten bis zu den Arbeiter*innen, deren Recht auf Leben in einer faschistischen Türkei massiv bedroht sei. Aber auch Konflikte innerhalb des Regimes seien absehbar, so mit liberal orientierten Kapitalfraktionen oder dem Koalitionspartner MHP. Obwohl bei der Opposition eine Organisation fehle, sei Grund genug zur Hoffnung vorhanden und es sei zentrale Aufgabe jeder solidarischen Bewegung in Europa, die demokratischen Kräfte in der Türkei zu unterstützen.
AKP sieht sich panislamischer Vorstellung geeinter Ummah verpflichtet
In der Fragerunde auf die Hauptunterscheidungspunkte zwischen AKP und Gülen-Bewegung angesprochen, erklärte Zirngast diese mit vor allem personellen und regionalen Unterschieden, die sich zu einem reinen Machtkonflikt ausgewachsen hätten. Darüber hinaus sei die Gülen-Bewegung außenpolitisch stark transatlantisch und pro-amerikanisch ausgerichtet, während die AKP sich eher der panislamischen Vorstellung einer geeinten Ummah verpflichtet sehe.
Zu seiner persönlichen Haft in der Türkei gab Zirngast einen eindrücklichen Erfahrungsbericht zu den Erlebnissen von Isolation, Abhörmaßnahmen und der Verweigerung von Gefangenenrechten. Auch die enge Kollaboration der westeuropäischen Staaten mit dem türkischen Regime wurde deutlich, als er berichtet, dass nach seiner Haftentlassung und seiner Rückkehr nach Österreich die dortigen Behörden auf Hinweise der Türkei hin ein Verfahren gegen ihn wegen Terrorverdachts eröffneten.
Fotos: Hinrich Schultze | http://www.dokumentarfoto.de