Die Solidaritätskampagne #FreeMaxZirngast macht einen weiteren Brief von Max Zirngast aus seiner Gefangenschaft in der Türkei in deutscher Übersetzung zugänglich. Im vorliegenden Schreiben vertieft Max Zirngast in Anknüpfung an seine früheren Ausführungen seine Analysen der strukturellen Gewalt des türkischen Gefängnissystems und führt die eindrücklichen Berichte aus seinem Haftalltag fort.
„Nicht zuletzt angesichts der Schilderung der diversen Willkürpraktiken wird deutlich, wie dringlich und unverzichtbar ein resolutes solidarisches Engagement für Max Zirngast sowie für alle anderen inhaftierten Journalist*innen und politischen Gefangenen in der Türkei ist. Folgerichtig endet dieser Brief mit Gedanken zur Solidarität“, schreiben die Mitglieder der Kampagne, die sich seit seiner Verhaftung im September für die Freilassung des österreichischen Journalisten und Aktivisten einsetzen.
Max Zirngast hat den Brief am 9. Dezember 2018 im Gefängnis von Sincan geschrieben:
„Die zeitliche und räumliche Struktur des Gefängnisses bringt gewisse Mechanismen körperlicher und psychischer Gewalt hervor, die auf uns Gefangene einwirken. Von einigen habe ich bereits berichtet: von Monotonie, Bewegungslosigkeit und Isolation. Zudem habe ich einige Strategien beschrieben, mit denen wir dieser Gewalt zu widerstehen versuchen: Disziplin, Kreativität und Solidarität.
Von einer allgemeineren Warte aus möchte ich nun – neben den Bedingungen, denen wir hier unterworfen sind – zwei weitere Elemente psychischer Gewalt darstellen, die sich im Zusammenhang mit dem Gerichtsverfahren, den Gesetzen und Regeln sowie darüber hinaus den Verwandten der Inhaftierten und der Gesellschaft ergeben: die Ungewissheit und die Willkür.
Die Ungewissheit
Nach einigen Tagen des Polizeigewahrsams wurden wir zuerst dem Staatsanwalt und dann dem Haftrichter vorgeführt, der uns sodann aufgrund des Verdachtes auf „Mitgliedschaft bei einer Terrororganisation“ in Untersuchungshaft ins Hochsicherheitsgefängnis überführte. Aber weder beim Staatsanwalt noch beim Haftrichter wurde irgendetwas vorgelegt, das auch nur die Existenz (!) der in Rede stehenden „Terrororganisation“ [laut Berichten der staatlichen Medienagentur Anadolu Ajansı soll es sich dabei um die sogenannte „TKP/K“ handeln, weitere Details sind nicht bekannt; Anm. d. Red.] beweisen könnte. Diese ist nicht in der „Liste der Terrororganisationen“ des türkischen Innenministeriums verzeichnet. Folglich wurde uns bei der Vernehmung auch kein einziges Indiz zu einem möglichen Bezug zwischen uns und der genannten Terrororganisation vorgelegt. Dennoch befinden wir uns im Gefängnis.
Dass keine solchen Indizien vorgelegt wurden, heißt klarerweise nicht, dass man nicht zu einem späteren Zeitpunkt noch gewisse „Indizien“ präsentieren wird. Aber außer den Fragen des Staatsanwaltes bei der Vernehmung wissen wir überhaupt nichts über die Vorwürfe [die Anklage ist als geheim klassifiziert, die Anwälte haben deshalb noch keinen Einblick; Anm. d. Red.]. Sobald die Anklageschrift fertig ist – vielleicht ist sie es ja schon? –, werden wir mehr wissen. Bisher jedenfalls sind wir seit zweieinhalb Monaten in Haft, ohne zu wissen warum.
Ich möchte noch einmal unterstreichen, dass der Staatsanwalt in der gesamten Vernehmung keine einzige konkrete Anschuldigung vorgebracht hat. Das Verhör beschränkte sich auf Behauptungen wie „du kennst Person xy“, „du hast diesen und jenen Artikel geschrieben“, „diese und jene Bücher wurden in deiner Wohnung gefunden“ und so weiter.
Kurz zusammengefasst: Wir wurden inhaftiert, ohne dass eine Schuld festgestellt wurde oder etwas vorgelegt wurde, das einen Straftatbestand darstellen könnte. Kein einziger Beweis wurde vorgelegt.
Selbstverständlich geht mit jedem rechtlichen Verfahren ein Moment der Ungewissheit einher. Aber in der Türkei gibt es Menschen, die seit Monaten, ja Jahren inhaftiert sind, ohne dass eine Anklageschrift vorgelegt wird. So etwa im Fall von Osman Kavala, um nur eines der bekannteren Beispiele zu erwähnen. Er ist seit einem Jahr inhaftiert und niemand weiß, was genau ihm eigentlich vorgeworfen wird.
Diese Praktiken haben einen solchen Umfang angenommen, dass sogar der Präsident selbst [Recep Tayyip Erdoğan; Anm. d. Red.] kritisierte, dass die Verfahren zu lange dauern. Anscheinend wird etwas unternommen, es werden offenbar Treffen abgehalten und Reformen verabschiedet. Geändert hat sich jedoch noch nichts.
Und wir sind immer noch im Gefängnis. Wir wissen nicht, wann wir dem Richter gegenüberstehen, wann die konkreten Vorwürfe gegen uns vorgelegt oder wann wir freikommen werden. Das betrifft nicht nur uns, sondern auch unsere Nächsten, die ebenfalls nicht mehr in die Zukunft gerichtet planen können. Die derzeit trotz fehlender Anklage de facto stattfindende Bestrafung wird nicht nur uns, sondern auch unseren Nächsten angetan. Diese Unsicherheit ist potenziell ein sehr schweres psychologisches Druckmittel und greift die Seele an.
In der Türkei sind derzeit rund 260.000 Menschen inhaftiert. Zwischen 200.000 und 200.500 dieser Personen wurden „rechtskräftig“ verurteilt. Das bedeutet, dass sich mindestens 55.000 Personen ohne Verurteilung im Gefängnis befinden. Von den 260.000 Inhaftierten sind 44.000 auf der Grundlage von „Terrorvorwürfen“ in Haft, also auf Grundlage einer extrem obskuren und unklaren Kategorie. Zu dieser Zahl müssen natürlich noch all die hinzugezählt werden, die ohne Haftbeschluss vor Gericht stehen. Deren Zahl kenne ich nicht. Man muss sich das vor Augen führen: Es gibt Menschen, die seit Jahren vor Gericht stehen. Sie haben sich ein Leben aufgebaut, eine Familie gegründet und stehen in Lohn und Brot – und plötzlich werden sie verurteilt! Immer diese Ungewissheit, immer dieser psychische Druck.
Zählen wir nun noch die Nahestehenden und die Verwandten hinzu, dann zeigt sich, dass Millionen von Menschen in der Türkei von dieser Art der Ungewissheit betroffen sind. Ich denke, ich muss nicht eigens hervorheben, dass diese Situation auf lange Sicht gesellschaftlich äußerst schädlich sein wird.
Dazu eine Randbemerkung: Zahlen des türkischen Gesundheitsministeriums zufolge hat die Nutzung von Antidepressiva in den letzten fünf Jahren um 27 Prozent zugenommen. Der Präsident des Vereins für Psychiatrie in der Türkei, Prof. Dr. Böke, erklärt diese Zunahme nicht nur mit Bezug auf soziale Konflikte, Arbeitslosigkeit und Gewalt, sondern fügt außerdem hinzu: „Zeuge von Willkürakten zu sein steigert die Unsicherheit. Insbesondere die Willkürmaßnahmen des Justizsystems bringen Unsicherheit hervor. All dies führt zu einer Zunahme psychiatrischer Krankheiten und der gleichzeitigen Zunahme der Nutzung von Medikamenten.“ (siehe Milliyet vom 4. Dezember 2018, S. 4)
Willkür
Das bringt uns zum Thema Willkür. Willkür ist ein vielschichtiger Begriff. Ich möchte die Bedingungen, in denen wir uns befinden, konkret analysieren und dabei die Gewalt der Willkür darstellen.
Wenn die Strafe, das Gesetz, die Regel klar ist, dann kann man sich darauf einstellen und damit umgehen, wie schwer es auch sein mag. Aber im Justiz- und Gefängnissystem der Türkei herrscht Willkür. So gibt es etwa bestimmte Normen und Regeln, die unseren Haftalltag bestimmen. Aber in der Art und Weise, wie diese Normen und Regeln uns betreffen, gibt es gewisse „variable“ Faktoren: das Gesetz selbst, das Ministerium, den Staatsanwalt, das Gericht, die Gefängnisleitung, die Wärter. Was rechts- beziehungsweise regelkonform ist und was nicht, lässt sich oftmals nur schwer auseinanderhalten.
Sicherlich gibt es Gefängnisse in der Türkei, in denen die Bedingungen bedeutend schlechter sind als hier [im Sincan 2-Gefängnis bei Ankara; Anm. der Red.]. Im Gefängnis von Patnos bei Ağrı etwa werden die Zellen mitten in der Nacht mit Hunden durchsucht und das Wasser stinkt nach Kanalisation. Aber auch in unserem Alltag ist die Willkür ein wichtiger Faktor.
Ich möchte nur einige wenige Beispiele dafür geben. So informiert uns ein kleines Büchlein, das uns beim Einzug ins Gefängnis gegeben wurde, über unsere Rechte und Pflichten. Darin heißt es unter anderem: „Wenn Sie zur Zählung erscheinen, ist es nicht erlaubt, dies in kurzen Hosen, Unterwäsche, Pyjama oder Sandalen zu tun. Zur Zählung müssen sie vollständig gekleidet und in Schuhen erscheinen.“ So weit, so gut. Es gibt keine Angaben darüber, dass man während der Zählung stehen muss. Dennoch zwingt man uns dazu, während der gesamten Zählung zu stehen. Darüber befinden wir uns in einem Konflikt mit den Wärtern. Es heißt, es gebe eine „Regel“, wonach wir bei der Zählung stehen müssten. Wir haben den Rechtsweg dagegen eingeschlagen und vermutlich wird in unserem Sinne entschieden werden (es gibt diesbezüglich Präzedenzfälle). Aber was für ein Aufwand!
Außerdem heißt es in dem Büchlein: „In jeder Zelle befindet sich ein Soundsystem mit fünf Kanälen, die Musik spielen.“ Es gibt aber nur einen Kanal und der hängt von persönlicher Willkür ab. Außerdem ist der Kanal nicht einmal immer verfügbar. Zudem ist uns ein Radio in der Zelle gestattet. Das haben wir auch beantragt, woraufhin es hieß, dass keine Radios verkauft werden. Später sagte ein anderer Beamter das Gegenteil. Wir haben also nochmals einen Antrag auf ein Radio eingereicht und dann wurde plötzlich annonciert – wir wissen nicht, ob es Zufall war –, dass ab sofort Radios verkauft werden. Und wir stellten ein drittes Mal einen Antrag. Das Radio, das wir dann bekamen, empfing jedoch nicht einen einzigen Kanal. Wir gaben es also wieder zurück. All dies mag einigermaßen unwichtig erscheinen – aber nochmals, man stelle sich den Aufwand für derlei Dinge vor!
Noch ein Beispiel: Die Regulierung der Wasserzufuhr wurde in den zweieinhalb Monaten, die wir hier schon verbringen, zwei bis dreimal geändert. Anfangs wurde Warmwasser nur abends zur Verfügung gestellt, später auch morgens – aber statt bisher zwei Stunden oft nur maximal eine Stunde. Nun allerdings gibt es ein Rationierungssystem. Jede Person hat täglich Anrecht auf 30 Liter Warmwasser und 120 Liter kaltes Wasser. Ist die Ration ausgeschöpft, wird das Wasser abgestellt. Als dieses neue System eingeführt wurde, gab es in den ersten drei Tagen kein Warmwasser, auch das kalte Wasser lief immer wieder nicht. Mittlerweile funktioniert zwar alles, aber die Rationen sind sehr knapp bemessen. Bis das „Warmwasser“ warm wird, sind schon fünf bis zehn Liter verflossen, außerdem kommt zunächst rostiges Wasser. Zudem können wir nur raten, wieviel Wasser schon verbraucht ist. Da das Wasser für Geschirrspülen, Toilette, Dusche, Rasur, Putzen und Wäsche herhalten muss, reicht es meistens gerade so hin; manchmal reicht das Wasser auch schlichtweg nicht.
Kein Zweifel: Einzeln betrachtet lassen sich all diese Dinge lösen oder man kann darüber hinwegsehen. Noch willkürlicher als all das ist jedoch das Gerichtsverfahren selbst. Dessen Fortgang zeigt das „variable“ Verhältnis der Rechtspraxis zur Verfassung auf und wie unser Leben davon betroffen ist. In diesem Zusammenhang möchte ich auf einen wichtigen Aspekt zu sprechen kommen. Seitdem wir hier sind, können wir unsere Besucher*innen nicht sehen. Die Listen mit jeweils drei Besucher*innen wurden an die Polizei übergeben. Wir warten immer noch. Trotz zahlreicher Nachfragen hieß es immer wieder, dass noch kein Entscheid vorliegt. Und wir warteten. Erst viel später hieß es, dass es einer besonderen Erlaubnis bedürfe, da ich Ausländer sei. Selbst wenn dem so sein sollte, bleibt fraglich, warum die Besucher*innenliste von Mithatcan [Türetken, Max Zirngasts Zellengenosse; Anm. der Red.], der türkischer Staatsbürger ist, ebenfalls noch nicht angenommen wurde. Es ist offensichtlich, dass hier Willkür am Werk ist. Auch wenn uns irgendwann das Besuchsrecht noch zuerkannt werden sollte: Letztlich befinden wir uns mittlerweile seit zweieinhalb bis drei Monaten in Haft, ohne unsere Freund*innen sehen zu können. Diese „Sicherheitsprüfung“, der alle Besucher*innen unerzogen werden, bevor das Besuchsrecht gestattet wird, gibt es übrigens erst seit der Ausrufung des Ausnahmezustands.
Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Ich mache hier einen Punkt und gehe dazu über, Formen des Umgangs mit diesen Bedingungen zu beschreiben. Diese sollen den Abschluss dieses Briefes bilden.
Mit der Solidarität im Rücken
Wie gezeigt, ist das Leben im Gefängnis von Unsicherheit und Willkür geprägt. Die Inhaftierten und ihre Verwandten, insgesamt mehrere Millionen Menschen, sind schwerer psychischer Gewalt ausgesetzt. Es ist unschwer vorzustellen, welche destruktiven Effekte dies langfristig für die Gesellschaft haben wird. Es ist offensichtlich, dass psychische Erkrankungen zunehmen werden.
Uns geht es vergleichsweise gut. Von außen gibt es eine unfassbare Solidarität. Dies gibt nicht nur uns und unseren Nächsten Mut und Hoffnung, sondern verringert auch die Willkür. Die Solidarität gibt zu verstehen: „Hier gibt es Menschen, die alles sehr genau verfolgen“. Wenn unsere Anklage vergleichsweise schnell angefertigt werden sollte, dann ist auch hierfür der Solidarität zu danken. Dasselbe gilt für die anschließenden Prozesse. Auch wenn wir in gewissem Maße isoliert sind, sind über die Solidaritätsarbeit viele Menschen zusammengekommen. Das heißt, es ist das Gegenteil davon eingetreten, was mit der Inhaftierung beabsichtigt wurde. Und dies lässt für die Zukunft hoffen.
Wir Inhaftierten müssen im Gefängnis unser eigenes Programm zur Anwendung bringen, ohne auf allzu viel zu hoffen, aber auch ohne uns der Unsicherheit zu beugen. Es gibt für uns nur eine Regel: „Lies so viel und handle so diszipliniert, als ob du morgen freikommen würdest; stelle dich darauf ein, dass du lange Zeit hier bleiben wirst.“ Was wir hier also tun können, ist rational und vorausschauend die Auseinandersetzung zu suchen, um uns unsere Rechte zu erkämpfen, und uns außerdem diszipliniert um die eigenen Agenden zu kümmern. Und mit all der Solidarität im Rücken werden wir den Formen der psychischen Gewalt widerstehen.“