Festhalten am „dritten Weg”

In einem Jahresrückblick für den Kurdistan-Report beleuchtet Rêdar Han ein beachtliches, intensives Jahr des kurdischen Widerstands und gibt eine Vorschau auf die kommenden zwölf Monate.

Die kurdische Frage im Mittleren Osten hatte auch im vergangenen Jahr einen Platz auf der internationalen Agenda. Ihre Lösung, das hat sich für die Demokratisierung der Region wieder einmal gezeigt, gleicht noch immer einem gordischen Knoten.

Lange Zeit galt die kurdische Gesellschaft in den vier Nationalstaaten, auf die ihre Siedlungsgebiete aufgeteilt sind, als potentieller Instabilitätsfaktor. Die aus dem Vertrag von Lausanne nach dem Ersten Weltkrieg 1923 hervorgegangenen Staaten Türkei, Iran, Irak und Syrien waren seit ihrer Gründung jeweils mit einer eigenen „kurdischen Frage“ konfrontiert, die von der jeweiligen Staatsautorität als permanentes Sicherheitsrisiko behandelt und somit auch von der internationalen Staatengemeinschaft als ein Faktor der Instabilität betrachtet wurde. Diese Sichtweise brachte zuletzt im Dezember 2019 wieder der russische Außenminister auf dem internationalen Mittelmeer-Dialog in Rom mit den Worten zum Ausdruck, dass die „kurdische Frage eine wirkliche Bombe für die gesamte Region“ darstelle.

Doch die Umbrüche und Krisen, denen der Mittlere Osten in den letzten Jahrzehnten ausgesetzt ist, haben die Rolle der kurdischen Gesellschaft in der Region nachhaltig verändert. Insbesondere aus den anhaltenden Bürgerkriegen im Irak und in Syrien sind die KurdInnen bereits als maßgebliche Einflussgröße hervorgegangen. Zudem wird immer deutlicher, dass die kurdische Freiheitsbewegung einen der wenigen politischen Akteure in der gesamten Region Mittlerer Osten darstellt, die trotz aller entgegenwirkenden Tendenzen das Modell einer fortschrittlichen Demokratie verteidigen und vorantreiben.

Türkei: Widerstand in einer Diktatur

Das erste Halbjahr 2019 wurde in Kurdistan vor allem von den Hungerstreikaktionen gegen die Isolation Abdullah Öcalans und für demokratische Verhandlungen zur Lösung der gesellschaftlichen Fragen in der Türkei geprägt. Über Monate hinweg haben diese Aktivitäten die kurdische Gesellschaft und solidarische Menschen weltweit in Atem gehalten. Doch die Hungerstreikenden und der gesellschaftliche Widerstand, der sich um die beteiligten Aktivist*innen herum gebildet hat, führten letztlich zum Aufbrechen der Isolation auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali. Die Situation von Leyla Güven, der Ko-Vorsitzenden des Demokratischen Gesellschaftskongresses (DTK), eines Dachverbands der kurdischen Zivilgesellschaft, und zu jenem Zeitpunkt Initiatorin der Hungerstreikaktionen aus dem Gefängnis von Amed (Diyarbakır) heraus, stand sinnbildlich für die Gesamtsituation, in der sich kurdische Politiker*innen und Aktivist*innen in der Türkei befanden und immer noch befinden.

Das Ergebnis dieses kollektiven Widerstands war bedeutsam. Denn erstmals nach rund acht Jahren konnten die Anwält*innen des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan ihren Mandanten auf Imrali besuchen. Der erste Besuch auf der Insel im Marmarameer fand am 2. Mai statt. Anschließend verlasen seine Anwält*innen auf einer Pressekonferenz am 6. Mai eine Botschaft aus Imrali, die sowohl von Öcalan selbst als auch seinen drei Mitinsassen unterzeichnet war. Sie stellte, kurz zusammengefasst, ein Friedensangebot an den türkischen Staat dar. Es wird unter anderem auf die dringende Notwendigkeit demokratischer Verhandlungen für die Lösung der gesellschaftlichen Fragen in der Türkei und im Mittleren Osten hingewiesen. Die kurdische Seite hat mit dem Sieben-Punkte-Plan Abdullah Öcalans nochmals ihren Willen zu einer demokratischen Lösung der gesellschaftlichen Fragen in der Türkei, vor allem der kurdischen Frage, dargelegt. Das ist nicht neu. Seit den 1990er Jahren hat Öcalan immer wieder seine Verhandlungsangebote erneuert, die aufseiten des türkischen Staates jedoch auf taube Ohren stießen.

Neben den Hungerstreikaktionen waren innenpolitisch vor allem die Kommunalwahlen vom 31. März und die Wiederholung der Oberbürgermeister*innenwahl in Istanbul am 24. Juni 2019 von entscheidender Bedeutung. Mit der Niederlage der Regierung in beiden Fällen hat sich das seit Jahren festgefahrene Kräfteverhältnis in der Türkei und in Kurdistan, das die AKP-Regierung begünstigt hatte, verändert. Die Demokratische Partei der Völker (HDP) hat während der Wahlen entsprechend ihrer Wahltaktik „in Kurdistan gewinnen und im Westen verlieren lassen“ in den großen westlichen Metropolen als „unsichtbare Kraft“ gewirkt. Städte wie Ankara, Izmir, Adana, Mersin, Antalya oder Hatay gingen an das „Bündnis der Nation“ (türk.: Millet İttifakı), das vor allem von der Republikanischen Volkspartei (CHP) und der Guten Partei (İyi Parti) getragen wird. Indem die HDP in diesen Städten keine eigenen Kandidat*innen aufstellte, wurde der Volksallianz (türk.: Cumhur İttifakı), dem regierenden Wahlbündnis aus der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), ein schwerer Schlag versetzt. Diese strategische Bedeutung der kurdischen Stimmen ist dabei besonders hervorzuheben.

Die AKP-Regierung schritt, gerade als die Isolation auf Imrali gebrochen war, die Hoffnung auf eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses aufkam und die HDP einen entscheidenden Wahlsieg verbuchte, am 19. August zur Tat. Erneut ging der türkische Staat seit diesem Tag erneut gegen die kurdischen Stadtverwaltungen im Land vor. In den Metropolen Amed, Mêrdîn (Mardin) und Wan (Van) wurden die HDP-Oberbürgermeister*innen Adnan Selçuk Mızraklı, Ahmet Türk und Bedia Özgökçe Ertan auf Betreiben des Innenministeriums ihres Amtes enthoben. Bis zum Ende des Jahres sollten schließlich 28 der 65 von der HDP im vergangenen März eroberten Kommunalverwaltungen unter Zwangsverwaltung stehen. In der Türkei wurde schrittweise ein Regime errichtet, in dem Mandatsträger*innen nicht mehr gewählt, sondern ernannt werden. Betroffen von dieser autoritären und korrupten Regierungsform sind einzig kurdische Städte und Kommunen.

Dem Zusammenrücken der HDP mit türkischen Oppositionsparteien wie der CHP angesichts des fundamentalen Angriffs auf die lokale Demokratie sollte mit dem Beginn des türkischen Angriffskrieges am 9. Oktober 2019 ein Ende gesetzt werden. Die AKP fachte mit diesem Krieg erneut den Nationalismus und Chauvinismus der türkischen Gesellschaft und ihrer Parteienlandschaft an und ließ damit keinen Raum mehr für ein Zusammenkommen der HDP mit türkischen Oppositionsparteien. Darüber hinaus nahm Erdoğan vorerst auch den möglichen neuen Parteigründungen von Ex-AKP-Politiker*innen den Wind aus den Segeln.

Der vergessene Krieg in Südkurdistan

Während die völkerrechtswidrigen Besatzungsoperationen in Nordsyrien, sei es die Annektierung des nordsyrischen Kantons Efrîn 2018 oder die Besetzung von Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkanîyê (Ras al-Ain) im Oktober 2019, zwar keine Sanktionen, geschweige denn ernsthafte und scharfe Verurteilungen erfahren, aber von der internationalen Zivilgesellschaft aufgegriffen werden, erregt der Völkerrechtsbruch der Türkei in Südkurdistan kaum Aufmerksamkeit. Mit dem „Unabhängig­keitsreferendum“ in Südkurdistan im September 2017 hat dort eine neue Phase begonnen. Am 27. Mai 2019 startete die türkische Armee die „Operation Kralle“ und bombardierte die Gebiete Xakurke und Lolan. Ihr Ziel sind die Medya-Verteidigungsgebiete, die unter Kontrolle der Guerilla stehen und sich fast die gesamte südkurdische Grenze (Irak) nach Nordkurdistan (Türkei) entlang hinziehen. Seit Jahrzehnten versucht die türkische Armee immer wieder vergeblich, die Gebirgsregion zu besetzen und die Guerilla zu vertreiben. Im Rahmen dieser Operation ist die türkische Armee mehrere Kilometer in den Norden des Irak eingerückt, darüber hinaus befinden sich dutzende türkische Militärstützpunkte in der Region. Wenn dann noch das Schweigen der im Iran und im Irak einflussreichen Mächte miteinbezogen wird, deutet alles auf einen neuen umfassenden Plan gegen die kurdische Freiheitsbewegung hin. Neben der türkischen Invasion im Nordirak ist auch das selbstverwaltete Flüchtlingscamp Mexmûr Ziel weiterer Repression geworden. Seit Mitte Juli 2019 beschränken die Sicherheitskräfte der südkurdischen Regionalregierung (KRG) in Hewlêr (Erbil) willkürlich die Bewegungsfreiheit. Die Bewohner*innen des Lagers dürfen den Kontrollpunkt zwischen Mexmûr und Hewlêr nicht passieren und können so nicht in die Stadt gelangen.

Der Angriff auf Rojava und das internationale Komplott

Der seit dem 9. Oktober anhaltende türkische Angriffskrieg gegen die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien stellt in diesem Sinne den vorläufigen Höhepunkt der Angriffe des türkischen Staates auf die kurdischen Errungenschaften dar. Er erfolgte am 21. Jahrestag des internationalen Komplotts gegen die kurdische Führungspersönlichkeit Abdullah Öcalan. Öcalan musste Syrien am 9. Oktober 1998 auf Druck der Türkei verlassen und wurde am 15. Februar 1999 in die Türkei verschleppt. Zu diesem Komplott und der Rolle Öcalans erklärte der Rechtsanwalt und ehemalige Rechtsvertreter Öcalans, Mahmut Şakar, Öcalan sei zwar im Jahr 1999 beseitigt worden, „um den Einfluss der Kurden im Mittleren Osten zu schwächen, er aber Jahre später mit seinen Gedanken, Konzepten und schließlich der Rojava-Revolution in den Mittleren Osten zurückgekehrt ist. Als Parteiführer hat er Syrien verlassen und mit dem sogenannten Dritten Weg ist er als Vordenker einer freien, multiethnischen, multireligiösen und basisdemokratischen Gesellschaft zurückgekehrt.“

Der türkische Angriffskrieg hat also nicht nur die kurdische Gesellschaft und Freiheitsbewegung zum Ziel, sondern auch das alternative Gesellschaftsprojekt des demokratischen Konföderalismus. Bis zu den Angriffen war die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyriens dabei kein „Faktor der Instabilität”, sondern ganz im Gegenteil die einzig stabile Region inmitten der Wirren des syrischen Bürgerkrieges. Der Krieg in Nordsyrien hat nochmals klar die These Öcalans bestätigt, dass den türkisch-kurdischen Beziehungen in der Türkei im Hinblick auf eine Lösung der kurdischen Frage eine Schlüsselrolle zukomme. Das Potenzial der Kurd*innen im Irak, im Iran und in Syrien für eine Lösung ist nur begrenzt und kann allenfalls eine unterstützende Wirkung für eine Gesamtlösung entfalten. Der kurdischen Gesellschaft und Freiheitsbewegung tun sich angesichts der gegenwärtigen Situation in der Region zwei Wege auf, die Öcalan wie folgt schildert:

„Der erste Weg beruht auf einem Kompromiss mit den Nationalstaaten. Seinen konkreten Ausdruck findet er in einer Lösung durch eine demokratische Verfassung. Die demokratische Autonomie ist das Grundprinzip dieser Rechte. Hauptbedingungen dieses Prinzips sind der Verzicht des souveränen Nationalstaats auf jegliche Politik von Verleugnung und Vernichtung und die Abkehr der unterdrückten Nation von der Idee, einen eigenen Mini-Nationalstaat zu gründen. Solange sich beide Nationen nicht von solchen etatistischen Tendenzen abwenden, kann das Projekt der demokratischen Autonomie kaum umgesetzt werden. Auch bei der Lösung der kurdischen Frage führt der konsequente und sinnvolle Weg, der nicht auf Separatismus und Gewalt beruht, über die Akzeptanz der demokratischen Autonomie. Alle anderen Wege führen entweder zu einem Aufschieben der Probleme und somit in eine noch tiefere Ausweglosigkeit oder in scharfe Konflikte und Zerfall. Der türkische Nationalstaat kann nur zu einer normalen, rechtsstaatlichen, laizistischen und demokratischen Republik in Frieden, Reichtum und Wohlstand werden, indem er sich von dieser Innen- und Außenpolitik sowie Regimepraxis verabschiedet und die demokratische Autonomie aller Kulturen (einschließlich der türkischen und turkmenischen), insbesondere der kurdischen, akzeptiert.

Der zweite Lösungsweg der demokratischen Autonomie beruht nicht auf einem Kompromiss mit Nationalstaaten, sondern auf der einseitigen Umsetzung des eigenen Projekts. Im weiteren Sinne handelt es sich um die Verwirklichung des Rechts der Kurdinnen und Kurden auf ein Dasein als demokratische Nation durch die Umsetzung der Dimensionen der demokratischen Autonomie. Zweifellos werden sich in diesem Fall die Konflikte mit den Nationalstaaten verschärfen, die diesen Weg, einseitig zu einer demokratischen Nation zu werden, nicht akzeptieren werden. In dieser Situation werden die Kurden angesichts der Angriffe einzelner Nationalstaaten oder gemeinsamer Angriffe (Iran-Syrien-Türkei) keinen anderen Ausweg finden, als ‚zum Schutz der eigenen Existenz und eines freien Lebens zur Generalmobilmachung und Kampfbereitschaft überzugehen’. Sie werden davon nicht abrücken, im Kampf bis zu einem möglichen Kompromiss oder bis zur Erlangung der Unabhängigkeit auf der Grundlage der Selbstverteidigung das Dasein als demokratische Nation in all seinen Dimensionen und aus eigener Kraft zu entwickeln und zu verwirklichen.”

Die HDP und der DTK in der Türkei und Nordkurdistan wie auch die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyriens plädieren weiterhin für einen Kompromiss mit den jeweiligen Nationalstaaten, die bislang alle Friedensangebote ablehnen. Somit wird es auch in diesem Jahr die Perspektive der kurdischen Freiheitsbewegung sein, die Strategie des dritten Weges zu entwickeln. Der dritte Weg bedeutet vor diesem Hintergrund die selbstbewusste Haltung, die keine Bereitschaft zeigte, sich in fremde Interessen einbinden zu lassen. Stattdessen wird die Revolution von Rojava den Kurs verfolgen, die von ihr befreiten Gebiete gegen äußere Angriffe zu verteidigen und den Aufbau einer basisdemokratischen, geschlechterbefreiten und pluralistischen Gesellschaftsordnung voranzutreiben. Für die HDP in der Türkei wird es die Herausforderung sein, zusammen mit den demokratischen und linken Kreisen in der Türkei einen neuen demokratischen Pol in der türkischen Politik zu bilden.


Der Artikel erschien erstmals in der Januar/Februar-Ausgabe des Kurdistan Report