Bevor die Besucher*innen des Tatort Kurdistan Cafés am Mittwochabend verschiedene Referent*innen zum Thema „Gesundheit von unter unter Beschuss – Das Gesundheitssystem Rojavas und die medizinische Versorgung in Mexmûr/Südkurdistan“ hörten, schilderte die Ethnologin und Buchautorin Anja Flach die Geschehnisse vom Morgen, die viele in Empörung versetzt hatten. Um sechs Uhr morgens stand bei der Aktivistin die Polizei vor der Tür und forderte die Herausgabe ihres Handys sowie Computers, sonst würde eine vollständige Durchsuchung der Wohnung erfolgen. ANF berichtete über die Hintergründe des Vorfalls, die sich wie so oft auf Paragraph 20 des Vereinsgesetzes beziehen.
Nach Einschätzung der befragten Anwältin könnte die Ausforschung gerade entstehender und erstarkender Solidaritäts-Strukturen Beweggrund der Repressionsbehörden sein.
Einschüchtern lasse sie sich davon nicht. „Natürlich werde ich weiter den Namen und das Bild von Jakob öffentlich machen. In meinem Verständnis hat Jakob sein Leben auch für mich und uns alle gegeben, ich werde ihn in Ehren halten.“ Diese Haltung wird solidarisch mitgetragen, bereits am selben Abend wurde damit begonnen, Jakobs Bild in der Stadt sichtbar zu machen.
Selbstverwaltung und Solidarität – Mexmûr
Der thematische Teil des Abends begann mit einem ausführlichen Bericht zur medizinischen Versorgung in Mexmûr. Eine länger im Voraus geplante Delegation aus unter anderem Ärzt*innen, Parlamentarier*innen und Künstler*innen wollte ursprünglich zunächst auf Einladung der ezidischen Konföderation nach Șengal, aufgrund des von Erdoğan begonnenen Angriffskrieges wurde dies aber unmöglich. Nachdem die Durchreise endgültig verwehrt wurde, ging die Delegation schließlich direkt nach Mexmûr. Doch auch hier gab es zunächst Schwierigkeiten beim Passieren der Checkpoints, begleitet von einer unübersichtlichen Gemengelage aus Peschmerga und schiitischen Milizen, per WhatsApp verschickten Codewörtern und mit Bademantel und Colt ausgestatteten Grenzwächtern. Letztendlich konnte die Gruppe aber passieren und das Flüchtlingslager, bewohnt von Menschen, die Anfang der 1990er Jahre durch die vollständige Zerstörung ihrer Heimatorte in Nordkurdistan durch die türkische Armee in die Wüste auf irakisches Staatsgebiet flohen, besuchen. Mexmûr mag offiziell ein UNHCR-Camp sein, faktisch jedoch wird es von den Bewohner*innen selbst verwaltet, mit ihrer Ankunft haben sie Bäume gepflanzt, Brunnen gebohrt und eine Rätestruktur aufgebaut – auch den nach wie vor erfolgenden Angriffen durch die türkische Luftwaffe sehen sich die Menschen ohne jegliche Einmischung der Vertreter*innen der UNO gegenüber. Umso größer war die Freude über das Interesse von außen am Schicksal der hier lebenden Menschen. Im Gespräch mit Vertreter*innen aller Räte, bei der Besichtigung des Krankenhauses sowie einer Schule wurde offenbar, wie kreativ mit dem Wenigen, was zur Verfügung steht, gearbeitet wird. Ein Ende findet dies aber oft in der Knappheit von Medikamenten, die sich nicht durch Einfallsreichtum auffangen lässt. Durch das seit Juli bestehende Embargo habe sich die Situation dramatisiert, Geld und Medikamente können kaum noch „von außen“ durch die Arbeit in umliegenden Städten nach Mexmûr gebracht werden. Ganz konkret wird an dieser Leerstelle angesetzt: Die Delegation brachte einen Koffer voller Medizin mit und sammelt, nachdem ein Krankenwagen bereits Realität werden konnte, nun für ein neues Ultraschallgerät.
Dem Krieg zum Trotz – Die Stiftung der Freien Frauen in Rojava
Der Vortrag zu Rojava begann mit der Vorstellung der Stiftung der Freien Frauen in Rojava (WJAR). Diese arbeitet ganzheitlich gegen jegliche Form von Gewalt und begegnet den Schwierigkeiten von Frauen und Kindern in Rojava und Syrien auf der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen, gesundheitlichen und kulturellen Ebene und durch Bildung. So wurden unter anderem Gesundheitsseminare in zahlreichen Kommunen organisiert, um überall Ersthelfer*innen auszubilden sowie Gesundheitsstationen eingerichtet. Mit Ausbruch des Krieges wurde auch diese wichtige Arbeit extrem erschwert, der eigentliche zentrale Standort in Serêkaniyê musste aufgegeben werden. Nun, in Hesekê, kämpfen die Frauen mit der Materialknappheit, der Unterbringung der vielen Menschen, die fliehen mussten und der schlechten Stromversorgung. Trotz alledem wird in Qamișlo unter Hochdruck gemeinsam mit avahî am Aufbau einer dringend benötigten Poliklinik gearbeitet. In der Hoffnung, dass die Lage dort weiterhin relativ ruhig bleibt, wird mit dem Abschluss der Grundarbeiten für das Gebäude in etwa zwei Monaten gerechnet.
Austausch und gemeinsame Arbeit – Ärzt*innen-Delegation Oktober 2019
Solidarität zeigen, sich vernetzen, hören und sehen, was gebraucht wird und Medienarbeit leisten – dies waren die Ziele einer quasi zu Beginn des Krieges startenden Ärzt*innen-Delegation nach Qamișlo und Til Temir.
Nach eigener Einschätzung der Ärzt*innen aus Rojava fehle es an Wissen in einigen Fachgebieten, zum Beispiel im Bereich der Physiotherapie und Reha, woran durch die vielen Kriegsversehrten hoher Bedarf besteht. Und – natürlich – an Medikamenten und Geräten. Angesichts der schwierigen Versorgungslage und des Rückzugs sämtlicher NGOs nach Kriegsbeginn, nach dem der Kurdische Rote Halbmond Heyva Sor a Kurdistanê dem Krieg mit nur 800 Mitarbeiter*innen gegenübersteht, konnten die Teilnehmer*innen der Delegation nur feststellen, dass die medizinische Versorgung extrem gut organisiert und von erfahrenden Menschen geleistet wird. Eindrücklich und erschreckend belegte dies eine Gegebenheit während der massiven Angriffe der türkischen Armee auf Serêkaniyê: 75 Schwerstverletzte binnen einer Stunde mussten im Krankenhaus in Til Temir versorgt werden, dies geschah mitunter auf dem Parkplatz der Klinik. 75 Schwerstverletzte – eine Zahl, mit der sämtliche Krankenhäuser Hamburgs überfordert wären.
Die Delegation arbeitete vor Ort in den Krankenhäusern mit und sah die verheerenden Auswirkungen der mittlerweile „inflationär eingesetzten“ Drohnen und Artillerie. Diese führen nicht mehr durch Wunden durch Splitter, sondern „zerreißen alles“. Die enorm schwere Behandlung – „über Schusswunden freut man sich fast, da diese leicht zu versorgen sind“ – bedarf großer Mengen an gerinnungswirksamen Medikamente, doch diese fehlen. Dafür wird aktuell Geld gesammelt, bereits eingerichtet werden konnte eine verschlüsselte Telemedizin, um Fragen aus nicht vertretenen Fachgebieten über die nun wieder weite Distanz voneinander hinweg beantworten zu können.
Das Gesundheitssystem in Rojava
Vom türkischen und dschihadistischen Faschismus unter Beschuss genommen steht ein Gesundheitssystem, das wie alle Ebenen der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien basisdemokratisch organisiert ist. Immer 30 Familien oder Haushalte bilden eine Kommune, die elf Hauptkommissionen bildet, eine davon die Gesundheitskommission. Diese erfasst chronisch Kranke, Menschen mit Behinderung, Schwangere etc. und holt regelmäßig Informationen ein, ob es eine bestimmte Versorgung braucht. Bei kleineren Beschwerden kümmert sich die Kommission selbst. Aus mehreren solcher kommunalen Gesundheitskommissionen wird der Gesundheitsrat gebildet, in dem auch weitere Organisationen wie Heyva Sor und WJAR vertreten sind. Da die Gesundheitsversorgung hohe Kosten verursacht, aber für alle Menschen umsonst zur Verfügung gestellt werden soll, bekommen die Gesundheitskommissionen von den Kantonen das doppelte Budget im Vergleich zu den anderen Sektoren.
Dieses System als Teil der basisdemokratischen, feministischen und ökologischen Gesellschaft in Nord-Ostsyrien ist durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und die neo-osmanischen Träume Erdoğans in einer Extremlage, die enormen Widerstand und internationale Solidarität erfordert. Spenden, Delegationen und Aktivismus hier vor Ort, aller Repression zum Trotz, gehen Hand in Hand im Kampf für ein friedliches, freies, gesundes Leben.