Bis auf den allerletzten Platz war das Centro Sociale in Hamburg zum monatlichen Café der Kampagne Tatort Kurdistan am Mittwochabend besetzt. Nachdem der letzte Termin am 9. Oktober zum Jahrestag des internationalen Komplotts gegen Abdullah Öcalan aufgrund des Angriffskrieges ausfiel, war nun die aktuelle Situation nach fünf Wochen Krieg der Türkei gegen Nordostsyrien Thema.
Zu Beginn gab es vom kurdischen Dachverband NAV-DEM einen Überblick zur politischen Lage, in dem betont wurde, dass die Türkei mit der NATO im Rücken den Willen der Rojava-Revolution brechen wolle und dabei bekannte Muster zeige. Wie beim Krieg gegen Efrîn handle es sich um einen Genozid, ermöglicht durch weitere internationale Kräfte – bei Efrîn war es Russland, das den Luftraum freimachte, heute sind es die USA, die durch ihren Abzug grünes Licht für den türkischen Einmarsch gaben. Allerdings könne man nicht von einem Verrat der USA sprechen, da die Demokratische Selbstverwaltung stets betonte, dass es sich um ein taktisches Bündnis handelte, Vertrauen läge in erster Linie auf der eigenen und solidarischer Kraft. So dürfe man es nicht zulassen, den international lauten Aufschrei gegen das verbrecherische Treiben des Erdogan-Regimes durch vermeintliche „Waffenruhen“ oder ähnliches ersticken zu lassen.
Systematische Reorganisierung des IS vorangetrieben
Konkretisiert wurden die Ausführungen durch eine per Videochat zugeschaltete Internationalistin, die sich seit längerer Zeit in Rojava befindet. Auch sie bekräftigte: „Waffenstillstand gibt es nicht und gab es nie.“ Stattdessen seien Angriffe aus der Luft und durch schwere Artillerie schrecklicher Alltag, zuletzt seien gezielt assyrisch-christliche Dörfer angegriffen worden. Genozid – auch dieser Begriff fiel erneut: Nicht für die Ansiedlung Geflüchteter solle eine „Sicherheitszone“ geschaffen werden, sondern für Dschihadisten und ihre Angehörigen. Systematisch sei die Reorganisierung des IS vorangetrieben worden, die Kriegsverbrechen wie Exekutionen, Entführungen und Vergewaltigungen begehen, um die Revolution zu brechen. Ein „geschickter“ Zug von Erdogan, die Angriffe der Armee in erster Linie aus der Luft zu tätigen, während am Boden vor allem Dschihadisten kämpfen – so blieben die Verluste auf türkischer Seite gering, die Kriegsmoral im eigenen Land hoch und die Verantwortlichkeit für Kriegsverbrechen könne abgegeben werden.
Gesamte Bevölkerung im Widerstand
Die Gegenwehr der Menschen aber ist groß. „Die gesamte Bevölkerung hat sich dem Widerstand angeschlossen“, so berichtete die Freundin – von Demonstrationen, Aktionen, Boykott-Kampagnen gegen türkische Produkte, über die gemeinsame Trauer und Wut bei den täglichen Beerdigungen, bis hin zu der „Begrüßung“ der russisch-türkischen Patrouillen mit Steinen und faulem Essen – gar von russischen Fahrzeugen abgeworfene Essenspakete wurden auf diese zurückgeworfen. Es werde gesehen, dass diese Patrouillen eine dauerhafte Besatzung einleiten sollen, was unter allen Umständen verhindert werden soll. So werde auch die Selbstverwaltung bestmöglich aufrechterhalten, mit der klaren Aussage: „Ihr schafft es nicht, unser demokratisches System zu zerschlagen.“
Solidarität gegen Tatenlosigkeit der Staatengemeinschaft
Der Fassungslosigkeit über die Frage „Was haben wir Erdogan getan?“ und der Tatenlosigkeit der internationalen Staatengemeinschaft wird breite Solidarität entgegengesetzt: Die mittlerweile etwa 200.000 Geflüchteten werden nicht nur in Camps und Schulen, sondern auch in Familien untergebracht; mitunter leben fünf Familien in einem Haus zusammen. Gemeinsame Nachtwachen werden organisiert, die Selbstverteidigung mit Essen versorgt, jede*r ist auf die eigene Art beteiligt.
Auf Nachfragen wurde unter anderem sowohl das Treffen zwischen Trump und Erdogan thematisiert, wobei die entscheidende Frage sei, ob es einen Deal mit Ergebnis eines Angriffs auf Kobanê geben wird oder nicht, als auch die Rolle der syrischen Armee, mit der die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) ein rein militärisches Bündnis zur Sicherung der Grenzen geschlossen hat. So befinden sich die Soldaten der syrischen Armee auch nur dort und nicht in den Städten.
„Luftangriffe brechen unser Genick“
Dramatisch seien vor allem die Luftangriffe, diese „brechen unser Genick“ und lösen die größte Angst unter den Menschen aus. Auf die Frage „Was können wir hier tun, um euch zu unterstützen?“ fiel die Antwort eindeutig aus: „Macht weiter! Tragt die Forderungen weiter auf die Straßen!“ Diese seien in erster Linie die Einrichtung einer Flugverbotszone, eines Kriegsverbrechertribunals und einer internationalen, unabhängigen Beobachtungsstelle. Genauso wichtig sei es, sich klarzumachen, was die internationale Solidarität den Menschen im Land bedeute - „wir bekommen mit, was ihr macht!“. Überall laufen die Fernseher rund um die Uhr, dort zu sehen sind auch die Aktionen und Demonstrationen weltweit, welche enorme Moral unter den Menschen verbreiten. Auch die Freundin selbst, die durch das Drehen der Kamera erst am Ende des Gesprächs Einblicke in den von verschiedensten politischen Gruppen und Einzelpersonen voll besetzten Saal bekam, zeigte sich ergriffen und bestärkt durch das rege Interesse. „Tragt die Ideen Rojavas weiter. Was hier aufgebaut wurde, ist einmalig, die Selbstverwaltung und vor allem ihre Frauenstrukturen. Sie werden nicht schaffen, das zu zerstören.“
Krieg gegen eine feministische Bewegung
Möglichkeiten, die Ideen kennenzulernen und weiterzutragen, wurden im Anschluss an das Gespräch vorgestellt. Die von der kurdischen Frauenbewegung Kongreya Star initiierte Kampagne „Women Defend Rojava“ will die Stimmen der Frauen Rojavas nach außen tragen, die Widerstände von Frauen* weltweit verbinden und Bewusstsein dafür schaffen, dass in Nordostsyrien kein lokal begrenzter Krieg stattfindet, sondern ein Krieg gegen eine fortschrittliche, vor allem feministische Bewegung. In dessen extremer Zuspitzung steht die Scharia auf der einen Seite, die Frauenrevolution und Selbstverwaltung von Frauen auf der andern. So gehe es um die weltweite Aktivierung von FLINT*-Personen gegen den Krieg, aber auch um breite Organisierung als Ausdruck einer starken Selbstverteidigung. 20 regionale „Women Defend Rojava“-Komitees haben sich mittlerweile gegründet, auch in Hamburg, weitere sind im Aufbau.
Moralische Pflicht, gegen Genozid auf die Straße zu gehen
Das Bündnis „Hamburg für Rojava“ verdeutlichte abschließend, dass es unsere moralische und menschliche Pflicht sei, gegen jeden Genozid auf die Straße zu gehen. Der Kampf gegen Faschismus, Repression und Krieg müsse breit angelegt werden. Deutschland habe keine Antwort auf geschlechterbasierte Unterdrückung und die ökologische Krise, sondern stecke tief im patriarchal-kapitalistischen System, ausgezeichnet durch enorme Individualisierung. Gesellschaftliche Lösungen und kollektive Antworten zu finden, könne man von der kurdischen Bewegung lernen. So war der letzte Appell des Abends: „Schließt euch den Widerständen an, engagiert euch, tragt eure Ideen rein – Serkeftin!“