Salih Muslim: Öcalans Gefangenschaft ist unser größtes Schandmal

„Abdullah Öcalan hat nicht nur die Bewegung und sich selbst verteidigt. Er hat den Kampf auf ein Niveau gebracht, mit dem die Kurden ein entscheidender Faktor für die Demokratisierung des Mittleren Ostens wurden“, sagt der PYD-Politiker Salih Muslim.

Für die kurdische Gesellschaft gilt der 15. Februar als schwarzer Tag: An diesem Tag vor 22 Jahren geriet der Begründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, infolge eines völkerrechtswidrigen Piratenakts in türkische Geiselhaft. Anlässlich des Jahrestags des „internationalen Komplotts“, wie Kurdinnen und Kurden die Verschleppung ihres politischen Repräsentanten nennen, hat sich Salih Muslim vom Exekutivrat der westkurdischen Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) gegenüber ANF zur Bedeutung der Verschwörung und den Hintergründen geäußert.

Was war Ihrer Meinung nach das Ziel der am internationalen Komplott beteiligten Kräfte?

Zunächst möchte ich an dieser Stelle meine tiefe Verachtung über das internationale Komplott gegen Rêber Apo ausdrücken, das sich zum 22. Mal jährt. Es ist ein schwarzer Tag für das kurdische Volk. Der Repräsentant des kurdischen Volkes ist immer noch in den Händen des türkischen Staates und solange diese Gefangenschaft aufrechterhalten wird, dauert auch die Phase des Komplotts an. In diesem Sinne müssen wir alles nur Erdenkliche tun, um diesen Zustand zu beenden. Das Komplott richtete sich in der Person Öcalans gegen alle Kurdinnen und Kurden sowie die anderen Völker in der Region. Seit der Umsetzung sind sowohl der Zweck der Verschwörung als auch die Verantwortlichen dahinter offenkundig geworden. Das wurde bereits etliche Male von Öcalan zur Sprache gebracht und bewertet.

Komplott als Teil der Neustrukturierung des Mittleren Ostens

Die Völker der Region brauchten Demokratie und Freiheit. Die Hegemonialmächte wollten die Menschen in ihrem Sinne beherrschen. Schon in den 1990er Jahren ging es immer wieder um eine Neugestaltung beziehungsweise Umstrukturierung des Mittleren Ostens. 1995 arbeiteten diese Kräfte bereits an einem Transformationsplan, um ihre eigenen Interessen zu sichern. Es sind Akteure, die ihre Ziele durch Konflikte und Widersprüche zwischen den Völkern sichern. Auf diese Weise versuchten sie auch ihre Herrschaft über die Völker der Region auszubauen. Das kurdische Volk hingegen hatte ein Erwachen durch die Freiheitsbewegung erlebt und führte einen Prozess der Befreiung an. Die kurdische Bewegung sah es als ihre Aufgabe an, im Kampf der Völker für Freiheit und Demokratie der Motor zu sein. Natürlich war es Abdullah Öcalan, der diesen Prozess anführte und das Volk in diese Position brachte. Deshalb sollte er beseitigt werden. Öcalan führte die Völker mit seinen Ideen, seiner Philosophie, seinem Diskurs und seiner Ideologie in Richtung Freiheit. Aus diesem Grund stellte er ein Hindernis in den Plänen der Hegemonialmächte dar.

Türkei wurde die Wächterrolle übertragen

Nach 1980 begannen alle Völker, sich mit ihm zu erheben. Das kurdische Volk setzte alle seine Hoffnungen auf diese Revolution und beteiligte sich an ihr. Es gab sowohl Ideen und eine Ideologie, aber vor allem auch eine Kraft, die das Bewusstsein dahinter mobilisieren konnte. Und das war das kurdische Volk. Deshalb wollten diese Kräfte zunächst den Anführer dieses Prozesses eliminieren, um dann die organisatorische Einheit innerhalb des kurdischen Volkes zerschlagen. Auf diese Weise würden sie das Volk nach ihrem Gutdünken beherrschen können.

Das Komplott gegen Öcalan wurde in erster Linie von den internationalen Kräften angeführt und geschützt. Dem türkischen Staat wurde dabei eine Wächterrolle übertragen. Der damalige Ministerpräsident Bülent Ecevit sagte damals: „Sie haben uns eine Bombe in den Schoß gelegt, wir wissen nicht, was wir tun sollen.“ Die Gesetze, die heute auf Imrali angewandt werden, sind weder die Gesetze des türkischen Staates noch die Gesetze Europas; es handelt sich um Sonderrecht. Eigentlich sind es nicht einmal Gesetze, denn das Imrali-Regime basiert auf keinem Recht. Das ist die Praxis des Komplotts. Aber unser Widerstand ist stark. Das Komplott hat keinen Erfolg. Es ist weder gelungen, Rêber Apo zu liquidieren, noch das kurdische Volk zu spalten. Das Komplott hat nicht das gewünschte Ergebnis erzielt, aber es dauert weiter an. Natürlich sehen wir das, und kämpfen dementsprechend. Der Kampf des kurdischen Volkes geht weiter.

Welche Rolle spielte Öcalan dabei, dass das Komplott sein Ziel nicht erreichte?

Nach 1990 bemühten sich die Beteiligten ausschließlich darum, Rêber Apo auszuschalten. Als Vordenker hat Abdullah Öcalan nicht nur die Bewegung und sich selbst verteidigt. Er hat den Kampf auf ein Niveau gebracht, wodurch das kurdische Volk ein entscheidender Faktor für die Demokratisierung des Mittleren Ostens wurde. Über seinen Rechtsbeistand und die Gerichte hat er seine Verteidigungsschriften an das Volk weitergegeben. Es ist den Kräften des Komplotts nicht gelungen, Öcalan vom Volk zu trennen. Das seit 2015 andauernde Regime der verschärften Isolation ist als Ergebnis dieser Tatsache eingesetzt worden. Kein einziges Wort von Rêber Apo darf aus dem Gefängnis an die Öffentlichkeit dringen, denn trotz der bestehenden Umstände hat er weiterhin eine Führungsrolle für das kurdische Volk und seine Freiheitsbewegung inne. Deshalb dauert das Komplott an.

Die Revolution von Rojava findet vor aller Augen statt

Es soll verhindert werden, dass das kurdische Volk seine Dynamik nutzt, um den Kampf für Freiheit und Demokratie anzuführen. Man will die Kraft dahinter neutralisieren, scheitert allerdings an der Umsetzung. Die Revolution in Rojava beispielsweise findet vor unser aller Augen statt. Es ist das von Rêber Apo entwickelte Projekt der Demokratischen Nation, das dort umgesetzt wird. Dieses Projekt wird als das beste Modell für die Völker in der Region betrachtet. Dies ist der Grund, weshalb die Kräfte des Komplotts ihre Aggressionen ausweiten und die Angriffe eskalieren. Diese Angriffe richten sich gegen die Alternative „Demokratische Nation“. Das Projekt wird sich aber nicht nur in Rojava, sondern auch in ganz Syrien und dem Mittleren Osten entwickeln.

Was muss getan werden, um die Errungenschaften der Revolution von Rojava zu schützen?

Der Erfolg steht im Verhältnis zur Verteidigung, zur Unterstützung und zum Kampf. Dieser Kampf ist nur mit der Organisierung der Bevölkerung möglich. Der Erfolg von Kobanê beruht genau hierauf. Auch wenn die Organisierung nicht das Niveau erreichte, wie wir es uns gewünscht hätten, gab es dort einen gewissen Organisierungsgrad. Aus diesem Grund hat es den Widerstand von Kobanê, die gewaltige Unterstützung und den Sieg gegeben. Je mehr wir diese Organisation erweitern und andere Völker miteinbeziehen, desto größer wird unser Erfolg sein. Die Bevölkerung weiß, dass alles, was bisher geschehen ist, für sie getan wurde.

Oberste Priorität: Organisierung der Bevölkerung und Mentalitätswandel

Allerdings gibt es viele Kräfte in Syrien; die USA, Russland und andere Staaten und Mächte. Wir dürfen wir uns unter keinen Umständen ins Abseits schießen. Dafür ist aber politische Erfahrung und vor allem eine politische Perspektive notwendig. So wie diese Akteure ihren Interessen entsprechend mit uns in den Dialog treten, müssen auch wir handeln. Es ist notwendig, gemäß unseren eigenen Ideen und Philosophien vorzugehen, aber die Tür für alle offen zu halten. Als Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien haben wir den Dialog bisher mit niemandem abgebrochen. Wenn wir uns feindselig verhalten wollen, müssen wir wissen, warum die Betreffenden unsere Feinde sind. Wollen wir freundschaftliche Beziehungen aufbauen, muss auch dafür eine Basis bestehen. Unsere oberste Priorität ist die Organisierung der Bevölkerung und das Herbeiführen eines Mentalitätswandels.  Wenn wir dies leisten können, ist es möglich, im Rahmen des Projekts der Demokratischen Nation mit unserer eigenen Kultur, unseren eigenen Überzeugungen und unserer Vielfalt zusammen zu leben. Gleichzeitig dürfen wir nie vergessen: jeder Moment, den Rêber Apo unter diesen Bedingungen verbringt, ist für uns eine große Schande.