Die Revolution in Ostkurdistan und Iran für Freiheit und Selbstbestimmung geht in die sechste Woche, und das Regime der Mullahs reagiert weiterhin mit voller Härte: Mehr als 200 Menschen wurden bisher getötet, mindestens 40 von ihnen in Rojhilat. Doch Anzeichen für ein Abflauen des Aufstands gibt es nicht. In Mahabad wurde am Samstag ein weiterer Generalstreik ausgerufen, trotz starker Präsenz von Sicherheitskräften gingen zahlreiche Menschen am Abend auf die Straße und riefen „Jin, Jiyan, Azadî“ und „Tod dem Diktator“. Auch in Sine (Sanandadsch), Seqiz (Saqqez), Kirmaşan (Kermanschah), Dêwlan (Dehgolan) und Bokan wurde gegen das Regime protestiert. In Sine sollen wieder Schüsse gefallen sein, in Kirmaşan skandierten Studierende der Razi-Universität „Wir werden kämpfen, wir werden sterben, wir werden Iran zurückerobern“. Ab heute beginnt zudem ein vom Koordinierungsrat der Lehrergewerkschaften angekündigte Streik.
Der Ko-Vorsitzende der PJAK (Partei für ein freies Leben in Kurdistan), Siamand Moini, sieht in Kurdistan das Zentrum der Revolution in Iran. In einem Interview mit RojNews hat sich Moini zur aktuellen Situation in dem Land, über das Projekt seiner Partei und die Bedeutung einer gemeinsamen Haltung aller Widerständigen geäußert.
Worin besteht Ihrer Meinung nach der Unterschied zwischen dem aktuellen Aufstand, der sich am gewaltsamen Tod von Jina Mahsa Amini entzündete, und früheren Protestbewegungen?
Diktaturen und konservative Systeme haben ihre eigenen Wahrheiten, die auf einer gewissen Beschränktheit und der Ablehnung anderer Ideen beruhen. Diese Systeme richten sich im Allgemeinen gegen jede Form der gesellschaftlichen und persönlichen Freiheit. Sie akzeptieren keinen Weg, der sich zur Freiheit öffnet. Die Islamische Republik Iran agiert in diesem Bewusstsein und aus einer militaristischen Perspektive heraus. So wurde das patriarchale System aufrechterhalten. Es ist vollkommen natürlich, dieses Regime als konfessionalistisch und faschistisch zu bezeichnen. Es hat nie versucht, Lösungen zu finden. Daher wurden in Iran von verschiedenen Klassen und Gruppen kontinuierlich Proteste organisiert. Die aktuellen Demonstrationen unterscheiden sich jedoch von den früheren. Sie können als Beginn einer Renaissance des Bewusstseins und der Ideen in Iran und der gesamten Region bezeichnet werden. Frühere Proteste waren entweder klassen- oder regionalbezogen und richteten sich gegen die zentralistische Mentalität des Nationalstaates. Es gab keine Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Komponenten Irans und Kurdistans. Diesmal begannen die Demonstrationen in Ostkurdistan, angeführt von kurdischen Frauen. Die Menschen benutzten den revolutionären Slogan „Jin Jiyan Azadî“. Diese Parole vereint alle Kräfte und Parteien, die sich gegen das iranische Regime stellen. Sie wird im ganzen Land skandiert, hat ihren Ursprung aber in Ostkurdistan. Das bedeutet, dass Kurdistan das Zentrum und die Vorhut der demokratischen und freiheitlichen Revolution im gesamten Iran sein kann.
„Das Regime betrachtet die Demokratie- und Freiheitsfrage als ein Sicherheitsproblem“
Was sind die Forderungen der Menschen, insbesondere der Frauen, in Iran und Ostkurdistan?
Jede Bevölkerungsgruppe und jede Identität hat ihre eigenen Forderungen. Betrachtet man das Thema jedoch unter soziologischen und politischen Gesichtspunkten, so stellt man fest, dass es viele Gemeinsamkeiten zwischen den Forderungen aller Bevölkerungsgruppen und Identitäten im Iran gibt. Einer dieser gemeinsamen Punkte ist die Forderung nach der Abschaffung des totalitären, faschistischen und konfessionalistischen Regimes. Dies ist kein akzeptables Regime für die Bevölkerungsgruppen in Iran und für die Frauen, die immerhin die Hälfte der Gesellschaft ausmachen. In diesem Land hat die Unterdrückung durch das Regime ein derartiges Ausmaß erreicht, dass es sich in das Leben aller Menschen einmischt. Es bestimmt, wie sich Frauen zu kleiden haben und wie sie ihr Kopftuch binden sollen. Das Regime betrachtet die Demokratie- und Freiheitsfrage der Völker als ein Sicherheitsproblem und als Gefahr für die eigene Macht. Es lässt keine Freiheit zu. Es bringt alle unter dem Vorwand der angeblichen „Teilung des Irans“ zum Schweigen. Als PJAK haben wir in den vergangenen Jahren viele Projekte vorgestellt, aber die Forderungen der Menschen in Ostkurdistan wurden von der Regierung nie berücksichtigt. Deshalb sucht die Bevölkerung Irans, insbesondere das kurdische Volk in Rojhilat, nach Möglichkeiten, die Freiheit zu erkämpfen.
„Wir erleben den Zusammenbruch des Regimes“
Das iranische Regime behauptet, dass ausländische Kräfte hinter den Protesten stünden, und macht die Kräfte aus Ostkurdistan dafür verantwortlich. Wie bewerten Sie diese Anschuldigungen?
Solche Äußerungen des Regimes sind nicht neu; die meisten Diktaturen, die sich in Schwierigkeiten befinden und nicht in der Lage sind, die Probleme der Gesellschaft zu lösen, suchen die Ausrede darin, dass Kräfte aus dem Ausland dahintersteckten. Das ist eine komplette Lüge und eine faule Ausrede, die Diktatoren als Entgegnung auf Forderungen nach Freiheit und Rechten benutzen. Wenn eine Gesellschaft von einem diktatorischen und totalitären System regiert wird, in dem es keine Freiheit gibt, sind die Menschen gezwungen zu protestieren und ihre Rechte von der Regierung einzufordern. Diktaturen verweisen bei jedem Konflikt zwischen dem Volk und der Regierung auf äußere Kräfte. Die Geschichte der Menschheit hat jedoch gezeigt, dass diese Methode nicht erfolgreich ist. Stattdessen erleben wir den Zusammenbruch der Diktatur und die Zerstörung dieses Systems durch das Volk.
„Keine Diktatur durch eine neue austauschen“
Manche Kräfte versuchen die Hoffnung des Volkes nach außen zu lenken und das Schah-Regime wiederaufleben zu lassen. Was steckt dahinter?
Es stimmt, dass es einige Parteien und Einzelpersonen gibt, die alle ihre Hoffnungen auf eine Intervention des Auslands gesetzt haben und einen Platz in der künftigen Regierung einnehmen wollen. Sie spiegeln aber nicht den Willen des Volkes wider. Das bedeutet im Grunde, dass diese Kreise keine wirksame Organisierung in der Bevölkerung haben. Deshalb wollen sie sich selbst mit Hilfe ausländischer Mächte an die Stelle der alten Diktatoren setzen. Wir wissen, dass das globale System seine eigenen semiliberalen Pläne und Projekte in der Region hat, die es aus Eigeninteresse umsetzen will. Demgegenüber bereitet sich die Volksmacht an einer anderen Front auf den Aufbau einer zukunftsfähigen und demokratischen Gesellschaft vor. Aber andererseits gibt es eben auch diejenigen, welche das halbliberale Streben internationaler Mächte realisieren und die aktuelle Diktatur gegen eine neue austauschen wollen. Die Völker Irans und insbesondere das kurdische Volk kennen dieses dynastische System jedoch bereits. Mit diesen chauvinistischen Methoden kann es sich keinen Platz im iranischen Volk erobern. Das Volk als Ganzes fordert Frieden und Freiheit. Es lehnt eine sektiererische und rassistische Diktatur ab. Daher wird dieses System in der Zukunft Iran keinen Platz haben.
„Reaktionäre wollen feministische Forderungen patriarchal liberalisieren“
Gibt es auch Versuche, die Forderungen der Frauen innerhalb der Proteste zu marginalisieren?
Es ist allgemein bekannt, dass die Gesellschaft Irans durch das Bildungssystem und das System der Islamischen Republik von einer umfassend patriarchalen Mentalität geprägt wurde. Auf dieser Grundlage ist auch die Denkweise patriarchal. Es ist soziologisch verständlich, dass die Vorstellungen des Regimes und eines Teils der iranischen Opposition auf dieser Mentalität beruhen. Sie betrachten das politische Geschehen und gesellschaftliche Fragen aus einer macht- und männerdominierten Perspektive. Deshalb kann der patriarchale Teil dieser Gesellschaft die natürlichen Forderungen der Frauen nach Freiheit und Gleichberechtigung nicht verdauen. Sie wollen diese Forderungen nach ihren eigenen Vorstellungen oder, anders ausgedrückt, entsprechend einer patriarchalen Haltung liberalisieren. Die demokratischen Forderungen der Frauen, die ich zuvor als eine Renaissance des Geistes beschrieben habe, sind jedoch ein Hindernis für die konservative und patriarchale Mentalität. In einer von Männern dominierten Gesellschaft ist es daher nur natürlich, dass die Konservativen ihre reaktionäre Mentalität unter einer revolutionären Maske verbergen wollen.
„Kurdisches Volk agiert in Rojhilat in Einheit und Solidarität“
Wie sieht es mit der politischen Einheit der Kräfte in Ostkurdistan aus?
Unabhängig von den politischen Parteien befindet sich das kurdische Volk im Allgemeinen in einem Zustand der Einheit und Solidarität. Der in der Stadt Seqiz wegen der Ermordung von Jina Amini begonnene Aufstand fand bald auch in den anderen Städten Ostkurdistans Unterstützung. Nicht nur die Städte in Kurdistan, sondern auch Städte wie Teheran, Täbriz, Schiraz und Ahvaz waren beteiligt. Dieser Aufstand breitete sich auf alle Orte in Iran aus und auch in anderen Ländern lebende Kurdinnen und Kurden erhoben sich und gingen gegen das Regime auf die Straße. Dies überraschte alle unterdrückerischen Kräfte in Iran.
„Eine Reform des Regimes ist nicht möglich“
Was für eine Lösung wollen Sie für Iran?
Die Islamische Republik mit ihrer sektiererischen und faschistischen Perspektive lässt keine Möglichkeit für Demokratie und Problemlösung in Iran zu. Jetzt, nach mehr als 40 Jahren an der Macht, können sie nicht einmal ihre alten Verbündeten tolerieren. Viele ihrer früheren Führungspersönlichkeiten wurden ausgeschaltet, getötet oder inhaftiert. Was die kurdische Frage betrifft, so geht dieses System sowohl aus einer sicherheitspolitischen als auch aus einer sektiererisch-faschistischen Perspektive an diese Frage heran. Daher wäre es ein historischer Fehler, von einem solchen System Demokratie zu erwarten. Wie wir bereits gesagt haben, gibt es mit dieser Regierung keine Möglichkeit für Veränderungen und Reformen. Deshalb sind Reformen und Veränderungen in dieser Zeit nicht möglich. Ein Wandel kann nur bedeuten, dass dieses Regime zusammengebricht und ein Machtwechsel herbeigeführt wird. Die PJAK hat Projekte für diesen Zeitraum.
„Aufstand bis zum Sieg fortsetzen“
Was ist Ihre Forderung an das iranische Volk, die iranischen Kräfte, die demokratischen Kräfte und die Frauen in dieser Phase?
Seit 2016 haben wir an zwei Hauptprojekten gearbeitet: Eines für Ostkurdistan und das andere für den gesamten Iran. Wir wollen, dass die pro-demokratischen Kräfte in einer gemeinsamen Front gegen dieses totalitäre Regime kooperieren. Gegenwärtig hat der Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ als grundlegende Parole alle Kräfte im gesamten Iran zusammengebracht. Das kurdische Volk wurde zum Vorreiter dieser Revolte. Es ist an der Zeit, das zu nutzen. Die meisten Komponenten in Iran haben Kurdistans Avantgarderolle anerkannt. Kurdistan kann in dieser Phase die Volksrevolution anführen. Es ist jedoch wichtig, die Einheit in Ostkurdistan zu stärken und diesen Aufstand bis zum Sieg fortzusetzen. Es ist wichtig, dass die Demonstrationen bis zum Erfolg andauern. Wir, die PJAK, haben vom ersten Tag an für unser Volk gekämpft und werden unserem Volk und den Menschen, die Freiheit in Iran fordern, weiterhin mit aller Kraft zur Seite stehen. Solange, bis der Sieg errungen ist.