KODAR: Ein Leben ohne Nationalstaat ist möglich

Auf dem dritten Kongress der ostkurdischen Bewegung KODAR ist das Modell einer demokratischen Nation als Alternative zum Nationalstaat diskutiert worden. Der Mittlere Osten wurde als „Friedhof westlicher Projekte“ bezeichnet.

Im Mai hat in den Bergen Kurdistans der dritte Kongress von KODAR stattgefunden, der „Freiheits- und Demokratiebewegung Ostkurdistans“. Drei Tage lang diskutierten Delegierte aus den verschiedenen Arbeitsbereichen über die bisherigen Aktivitäten der Bewegung und die politischen Entwicklungen in Ostkurdistan und dem Mittleren Osten. Dabei wurde die eigene Führungsschwäche kritisiert und die Arbeitsausschüsse wurden neu besetzt. Außerdem wurden ein 18-köpfiger Exekutivrat und die beiden Ko-Vorsitzenden gewählt. Die neue Doppelspitze stellen jetzt Gulan Fahim und Fuad Bêrîtan. Gulan Fahim ersetzt damit Zîlan Tanya, die bereits zwei Perioden Ko-Vorsitzende war.

Die mörderische Politik ist kein Schicksal

Fuad Bêrîtan, der nach einer Kongressperiode erneut zum Ko-Vorsitzenden von KODAR gewählt wurde, sagte in der Eröffnungsrede: „Wir halten hier und heute eine historische Zusammenkunft ab, die eine starke Signalwirkung auf Freund und Feind haben wird. Unser Kongress findet in einer Zeit statt, in der unser Land in jeder Hinsicht ausgebeutet und unterdrückt wird. Die Repression verschärft sich, Freiheiten werden abgeschafft, die Menschenrechtslage stellt eine eiternde Wunde dar und es werden tagtäglich Frauen ermordet. Armut und Korruption nehmen täglich weiter zu. Frauen erfahren Gewalt und werden ermordet, junge Menschen werden verhaftet und ins Gefängnis geworfen oder auf offener Straße hingerichtet. Das kurdische Volk wird selbst im 21. Jahrhundert noch missachtet. Gesellschaftliche Konflikte arten in Chaos aus, die Wirtschaft des Landes befindet sich an der Schwelle zum Bankrott. Wir erklären hier ein weiteres Mal, dass diese mörderische Denkweise und Politik, die den Menschen auferlegt werden, kein Schicksal sind.“

Der Mittlere Osten als Friedhof westlicher Projekte

In der Bewertung der politischen und militärischen Entwicklungen wurde festgestellt, dass der Mittlere Osten zum Zentrum des dritten Weltkriegs geworden ist und das neoliberale System in der Region und weltweit eine neue Besatzungswelle gestartet hat. Insbesondere im Mittleren Osten fänden sehr schnelle und vielseitige Entwicklungen statt. Die aktuellen politischen und militärischen Bedingungen wurden mit denen des ersten Weltkriegs verglichen. In jener Zeit seien Nationalstaaten als Alternative zum Konzept der imperialen Ordnung durchgesetzt worden. Heute betrachte das globale System die Nationalstaaten eher als Hindernis bei der Durchsetzung seiner Interessen. Der Mittlere Osten wurde als „Friedhof westlicher Projekte“ bezeichnet, dennoch werde immer noch Widerstand in der Region geleistet.

Nationalismus und religöser Fanatismus passen nicht zur iranischen Realität

„Der Mittlere Osten wird erneut in Krisen und Chaos gestürzt. Die stattfindenden Kriege haben in der Region und auch im Iran eine verheerende Wirkung. Die global und regional propagierten nationalistischen, religiösen und sexistischen Projekte decken sich nicht mit der Realität der Völker des Iran. Sie haben keine Gültigkeit in der Bevölkerung und brechen zusammen. Es gibt nur einen einzigen Weg, der Hoffnung für die Völker des Iran bedeutet und über Freiheit, Gleichheit und Demokratie zeigen kann, dass ein Leben ohne Nationalstaat möglich ist. Dabei handelt es sich um das Projekt der Demokratischen Nation“, so die allgemeine Bewertung.

Gräben zwischen Volk und Regierung

Durch das Entstehen neuer sozialer Klassen und das Verschwinden alter Klassen seien neue und breitere gesellschaftliche Gräben entstanden: „Die Notwendigkeit von Veränderungen wird immer offensichtlicher. Es besteht eine deutliche Trennung zwischen Volk und Regierung. Der Wandel der Lebensweise, die höhere Alphabetisierungsrate, die globale Kommunikation und der Fortschritt in der Technologie haben andere Anforderungen an die Gesellschaft gestellt und zum Entstehen neuer sozialer Klassen geführt. Das Regime kann diese Forderungen nicht erfüllen, wodurch die Lücken in der iranischen Energieinfrastruktur sichtbarer werden. Der Mangel an einer kohärenten und einheitlichen Führung in der Opposition hat dem iranischen Regime einen Sicherheitsspielraum verschafft.“

Gefängnisse, Ökologie, Corona

Ein wichtiges Thema auf dem Kongress war die Situation der politischen Gefangenen in Ostkurdistan und dem gesamten Iran. Der Gefängniswiderstand wurde als wichtiges Element des gesellschaftlichen Kampfes gewürdigt und es wurde die Notwendigkeit unterstrichen, die Gefangenen und ihre Angehörigen zu unterstützen. Außerdem wurde an die Ökoaktivisten erinnert, die in Rojhilat ums Leben gekommen sind. Auch die im Kampf gegen die Corona-Pandemie verstorbenen Beschäftigten aus dem Gesundheitssektor wurden gewürdigt.

Gesellschaftliche Organisation statt Macht

KODAR orientiert sich an der Philosophie von Abdullah Öcalan und versteht sich als „dritte Front" des Kampfes und der Organisation. Macht wird als Mittel des Einflusses abgelehnt, vielmehr geht es um gesellschaftliche Organisation. „Die Bewegung vertritt die dritte Front, indem sie eine neue Form der sozialen und kulturellen Organisation einführt, die auf der allgemeinen Mentalität des Mittleren Ostens basiert. Sie basiert auf der Koexistenz von Nationen in Übereinstimmung mit dem historischen Widerstand in Form einer demokratischen Konföderation der Menschen. KODAR zielt darauf ab, den demokratischen Konföderalismus in Rojhilat und im Iran als zentrales Ziel zu erkämpfen. Dieses Modell hat trotz aller Widerstände seitens globaler und regionaler Mächte seine Effizienz und Fähigkeit in den schwierigsten Situationen unter Beweis gestellt und ebnet den Weg für einen dauerhaften Frieden im Mittleren Osten, dem Iran und insbesondere in Rojhilat.“

Beschlüsse: Vom nationalstaatlichen System zum demokratischen Konföderalismus

In den auf dem Kongress gefassten Beschlüssen heißt es unter anderem: „KODAR wird seine Aktivitäten in allen Bereichen der Selbstverwaltung weiter ausbauen, um den Weg für den Übergang vom nationalstaatlichen System zum demokratischen Konföderalismus im Iran und in Rojhilat zu ebnen.“ Die politischen und sozialen Beziehungen mit den Belutschen, Arabern, Azeri (Aserbaidschaner), Turkmenen und anderen ethnischen Gruppen im Iran sollen im Sinne des von Abdullah Öcalan vorgelegten Projekt einer „demokratischen Nation“ gestärkt werden.

Patriarchat bekämpfen

Weiterhin sagt KODAR „gesellschaftlichem Sexismus, reaktionären Traditionen und patriarchalischen Gesetzen“ den Kampf an. Die gleichberechtigte und freie Teilnahme von Frauen am System der Selbstverwaltung soll umgesetzt werden. Der Jugend spricht KODAR eine „Pionierrolle bei der Entwicklung und Neuerschaffung der Gesellschaft“ zu.

Muttersprache

Die kurdische Sprache soll gefördert werden. KODAR setzt in ihrem Gesellschaftsmodell auf muttersprachlichen Unterricht für alle im Iran bestehenden Sprachen.

Religion

Zur Religionsfrage heißt es in den Kongressbeschlüssen: „Die Rituale und Überzeugungen jeder Gesellschaft müssen geschützt werden, da sie die Säulen der spirituellen Welt für diese Gesellschaft sind. Politische Mächte haben die religiösen Überzeugungen der Gesellschaft schon immer als Instrument zur Legitimierung und Ausbeutung manipuliert. KODAR lehnt jede Mentalität ab, die Religion und Überzeugungen als Werkzeuge zur Erlangung von Macht ausnutzt, und kämpft gegen diese Abweichungen. Sie versucht, einen Kontext für Dialog und Verhandlungen zwischen Religionen und Überzeugungen zu schaffen.“

Sozialwirtschaft, Ökologie, Bildung, Zusammenarbeit

Weitere Beschlüsse betreffen den Aufbau einer eigenen Sozialwirtschaft als Alternative zum Wirtschaftsmonopol des Staates, den ökologischen Kampf, die Bildungsarbeit und die Zusammenarbeit mit anderen Kräften beim Aufbau einer Selbstverwaltung in Rojhilat.